0804 - Die Frau mit den Totenaugen
Spiegel zu.
Sie erschrak. Sie war eine Person von zweiunddreißig, aber diese Frau sah aus wie fünfundvierzig. Ihr Gesicht bezeichnete sie als eine stumme Landschaft, in die sich tiefe Schatten und Ringe eingegraben hatten, die zu den müden Augen passten.
Fiona Finley hoffte, dass dieses Licht täuschen würde, deshalb presste sie beide Hände gegen das Gesicht, knete die Haut und hoffte, dass die Müdigkeit verschwand, auch dies schaffte sie nicht.
Es hatte keine Täuschung gegeben, sie sah tatsächlich so aus.
»Mein Gott, hier kann ich nicht mehr leben!« Fiona hatte den Satz herausgepresst. In den Worten schwangen all die Gefühle mit, deren sie fähig war. Sie drückten gegen ihre Seele, und die Frau wusste genau, dass hier einiges nicht mehr stimmte. Sie hatte das tote Mädchen gesehen. Es war keine Puppe gewesen, sondern ein ehemals lebendiges Geschöpf, da konnte man sagen, was man wollte.
Sie ließ sich nicht beirren. In diesem Haus ging etwas vor.
Aber was?
Nein, das konnte nicht so stehen bleiben. Fiona musste ihren Gedankenkreis erweitern. Es hatte ja nicht nur etwas mit dem Haus zu tun, auch andere hatten ihr die Geschichte nicht geglaubt.
Angeblich war das tote Mädchen nicht gefunden worden. Das glaubte sie auch nicht. Da steckten alle unter einer Decke, die Leute hier waren eine verschworene Gemeinschaft, die nicht wollte, dass irgendetwas ans Licht kam, das ihnen hätte schaden können. Alle trieben ein falsches Spiel. Sie waren zusammengekommen, um etwas zu verhindern.
Fiona verließ das winzige Bad wieder, nachdem sie sich frisch gemacht hatte. Erfrischt aber fühlte sie sich kaum. Ihre Psyche hatte arg gelitten. Die Frau durchquerte ihr Zimmer und sorgte dafür, dass die Schritte nicht zu laut waren. Sie traute in diesem Haus keinem mehr. Hier hatten selbst die Wände Ohren, und die Menschen waren für sie auf eine perverse Art nett.
An der Zimmertür blieb Fiona für einen Moment stehen. Sie wollte telefonieren, das hatte sie nicht vergessen. Vor einigen Minuten hatte der Vorsatz noch tief in ihr gesteckt, das war nicht mehr der Fall. Unsicherheit hatte sie überkommen. Hatte man ihr nicht die Gedanken vom Gesicht ablesen können?
Vielleicht – und deshalb stand sie auch vor der Tür und lauschte.
Es war nichts zu hören, sie musste sich trotzdem überwinden, um die Tür zu öffnen.
Der Gang war dunkel. Hatte sie das Licht ausgeschaltet, oder hatten die anderen das übernommen? Fiona war sich nicht mehr sicher, auch dies sah sie als Zeichen ihrer Angst.
Sie warf einen Blick auf die Uhr.
Himmel, es war beinahe Mitternacht. Die Zeit war trotz allem wie im Flug vergangen. Um diese Zeit rief man nicht bei fremden Menschen an, und Glenda Perkins war ihr in gewisser Weise auch fremd, auch wenn sie des Öfteren mit ihr in der Kantine zusammen gesessen hatte. Sie aber befand sich in einer Notlage. Was hier geschehen war, ging nicht mit rechten Dingen zu. Zudem hatte sie den Eindruck, dass es auch mit dem Haus zusammenhing, dem weißen, kalten, leeren Gebäude auf den Klippen, hinter dessen Fenster sie nicht nur das Licht, sondern auch das rote Gesicht gesehen hatte.
War das ein Geist gewesen? Es war falsch, sich darüber jetzt Gedanken zu machen. Viel wichtiger war das Gespräch. Sie schaute auf das Telefon. Es war noch ein alter schwarzer Apparat mit einer Wählscheibe, keiner Tastatur. Sie würde mehr Geräusche abgeben als die Tastatur, aber es gab keine andere Möglichkeit, eine Nachricht zu hinterlassen.
Das Telefon stand auf einer schmalen Kommode. Die Nummer kannte Fiona nicht auswendig, aber sie trug ihr kleines Notizbuch immer bei sich. Das blätterte sie jetzt auf, hatte den Namen gefunden und legte das kleine Buch aufgeschlagen neben den Apparat.
Dann wählte sie. Die dabei entstehenden Geräusche ließen Schauer über ihren Rücken laufen. Den Kopf hielt sie gedreht und schielte dorthin, wo der Flur auslief und die Treppe begann.
Niemand kam.
Dafür hörte sie das Freizeichen.
Sie war beruhigt. Dennoch klopfte ihr Herz schneller. Hoffentlich nahm jemand ab. Wenn Glenda Perkins nun nicht zu Hause war, was ja durchaus vorkommen konnte, dann…
»Ja… bitte …«
Fiona Finley fiel ein Stein vom Herzen. Sie war dermaßen erleichtert, dass Schwindel sie erwischte und sie Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten.
»Was ist denn? Wer…?«
»Ich bin es, Glenda.« Mit dieser Bemerkung unterbrach Fiona die schon ärgerlich klingende Stimme der Frau.
»Wer
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