0813 - Warten auf den Todesstoß
sah so aus, als würde sie jeden Moment aus den Gleisen rutschen und umkippen. Noch hatte sie mich nicht erwischt, und ich kletterte wie ein übergroßes Insekt die andere Bahnsteigkante hoch, um mich in Sicherheit zu bringen.
Die Lore streifte noch meinen linken Fuß. Ein harter Schlag, ich zuckte mit dem Bein zurück und rollte mich auf der anderen Seite des Bahnsteigs ab.
Die Lore rumpelte an mir vorbei.
Es war verrückt. Ich kam mir vor wie von heftigen Stromstößen durchtobt. Für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen, nur wusste ich gleichzeitig, dass ich mich nicht ausruhen konnte.
Jemand hatte die Lore angeschoben. Bestimmt nicht die Gräfin.
Dann die Frau mit dem Messer.
Ich suchte sie.
Lorna war nicht zu sehen.
Dafür sah ich Giselle Smith-Prange. Sie stand auf der anderen Seite des Bahnsteigs. Im dämmrigen Zwielicht wirkte sie wie ein kleiner, verschwommener Schatten, dessen Kopf von einem breiten Ring umrandet wurde. Sprechen konnte sie nicht.
Die Lore war weitergerollt und schließlich zum Stillstand gekommen. Ich trat wieder dicht an die Bahnsteigkante heran und schaute auf den Gleiskörper.
Dort lag Luke.
Bewegungslos und auf dem Bauch. Er wirkte wie eine automatische Puppe, die abgestellt worden war. In seinen Gliedern steckte keine Kraft mehr, und mit dem Unterteil musste die Lore auch seinen Kopf erwischt haben.
Ich dachte an meine verloren gegangene Beretta. Sie war wichtig, und sie musste auch irgendwo auf dem alten Gleiskörper liegen.
Leider wuchs das Unkraut zwischen den Schwellen so hoch, dass ich die Waffe nicht so schnell fand.
Ich wollte wieder hinabspringen, als mich die Stimme der Gräfin erreichte. »He, Sinclair…«
Sehr langsam schaute ich hoch.
Ich hatte schon geahnt, dass etwas passiert sein musste und sah mich nicht getäuscht.
Giselle Smith-Prange stand noch immer auf der gleichen Stelle.
Nur hatte sich zu ihr eine zweite Person gesellt. Lorna Löhndorf wirkte gegen die kleine Gräfin wie ein Riese, und das Messer lag so dicht an ihrer Kehle wie ein straff gespannter Galgenstrick…
***
Sie brauchte nichts zu sagen, ich wusste auch so, was sie wollte. Diese Gestik sprach Bände. Lorna Löhndorf war erschienen, um abzurechnen. Wahrscheinlich wollte sie endgültig einen Schlussstrich unter ihre Vergangenheit ziehen. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie den faltigen Hals der alten Frau, ohne mit der Wimper zu zucken, durchschnitt.
Lorna war an der Reihe, nicht ich. Aus diesem Grund blieb ich auch stehen und schaute die beiden über die Gleise hinweg nur an.
Die anbrechende Dunkelheit hatte sich weiter vorgeschoben. Der aus dem Sumpf steigende Dunst wehte schleierhaft über das Gelände des alten Bahnhofs. Er war wie ein bleichgraues Tuch, das nur wenige Lücken aufwies.
Ich wartete noch immer.
Lorna Löhndorf schwieg, war aber voll konzentriert. Obwohl sie mich mit ihren düster-dunklen Augen anschaute, hatte sie auch die Gräfin unter Kontrolle. Die Hand mit dem Messer zitterte nicht, und die Klinge lag wie eine spiegelnde Scherbe am Hals der alten Frau.
»Sie hat es geschafft, Sinclair, sie hat es tatsächlich geschafft!«, flüsterte Giselle Smith-Prange. »Meine damalige Erziehung hat Früchte getragen. Das Kind hat sich nicht einmal verändert. Es sieht noch so aus wie früher. Als wären die dreißig Jahre nicht gewesen. Im Gegensatz zu mir, denn bei mir hat das Alter zugeschlagen. Ich bin von ihm erwischt worden, es hat aus mir ein Wrack gemacht…«
»Sie haben sich den falschen Partner ausgesucht, Gräfin.«
»Ja, meinen Sie?«
»Die Hölle wird immer ihren eigenen Vorteil sehen.«
Sie lachte. Es hörte sich an wie ein Husten. »Ja, das kann schon sein, aber warum ist das Kind nicht gealtert? Warum sieht Lorna noch so aus wie damals?«
»Macht der Teufel Unterschiede?«
»Bei ihr schon. Sie war als Opfer gedacht. Wir haben sie hier gelassen, Satan sollte sich um sie kümmern. Das ist doch so, Lorna, nicht wahr? Du bist hier auf dem Bahnhof geblieben…«
Giselle Smith-Prange stellte es raffiniert an. Sie wollte Lorna in das Gesprach verwickeln, um sie eventuell ablenken zu können, aber die Leichen-Lady ließ sich darauf nicht ein. Das Messer bewegte sich um keinen Millimeter von seinem Platz weg, als sie auf die Bemerkung einging und eine Antwort gab.
Ihre Stimme klang mädchenhaft und zugleich böse. In ihr lauerte etwas, das noch nicht richtig zum Ausbruch gekommen war. Die Augen funkelten wie der Widerschein eines düsteren
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