0814 - Der geheimnisvolle Engel
Blendwerk, von absoluter Unwichtigkeit. Der Dämon selbst wohnt in einer eigenen Welt, von der aus er in die unsrige überwechseln kann. Durch ein unbegreifliches Tor, das beide Welten verbindet.
So hat es mir der Seraphim erzählt.
Eine andere Welt. Ich verstehe es nicht. Denn eigentlich gibt es nur die eine Welt, unsere nämlich. So haben es mich meine Lehrer gelehrt.
Der Gang, den ich durcheile, wird breiter. Er mündet in eine große Höhle. Es ist furchtbar kalt hier unten, ein eigenartiges Rauschen und Brüllen peinigt meine Sinne. Es kommt direkt aus dieser großen Höhle vor mir. Ich bete und bekreuzige mich, das Brüllen berührt nicht meine Ohren, sondern meine Seele.
Mein Atem stockt. Der Boden inmitten der Höhle wird plötzlich durchsichtig. Das Braungrau weicht einem hellen Schimmer, der sich zu allen Farben des Regenbogens verdichtet. Fasziniert starre ich auf das annähernd zwanzig Meter große Rund, in dem die Farben geheimnisvoll wabern und wallen, sich ineinander verdrehen und wieder auflösen. Das Spiel der Farben verwirrt meine Sinne, ich kann kaum noch meine Augen davon lösen.
Mein Atem stockt, ich schicke ein Stoßgebet zur heiligen Mutter Maria. Das Farbenspiel fließt zu einem leuchtenden Orange zusammen. Es bildet eine Blase aus, die nach oben steigt. In dieser Blase ist irgendetwas zu sehen, nicht mehr als ein Schatten. Ich kann es noch nicht erkennen, da das Orange es wie eine dicke Haut umgibt.
Dann zerplatzt die Blase. Ein derart furchtbares Wesen löst sich daraus, wie ich es mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht ausmalen könnte. Die Flammenfratze vor mir ist riesig, das ineinander verschwimmende Feuer bannt meinen Blick und verwirrt meinen Sinn. Mehr noch als die Farben des sich öffnenden Tores, denn nichts anderes ist dieses Leuchten im Boden. Das Rauschen und Brüllen hat sich verzehnfacht. Es ist jetzt fast unerträglich. Mir ist, als ob ich die armen Seelen im Höllenfeuer schreien hörte. Immerdar gepeinigt.
Dann überlagert das furchtbare Lachen des Dämons alle anderen Geräusche und lässt meine Knie zittern.
Der erste Flammenspeer löst sich aus der Fratze Svantevits und rast auf mich zu. Ich reiße den magischen Spiegel hoch. Nun hin ich nimmermehr zaudernd und zögerlich, nun habe ich den Kampf aufgenommen.
Der wunderbare Spiegel zieht den Flammenspeer an und saugt ihn in sich auf. Auch die nächsten Lanzen aus purem Feuer vermögen mich nicht zu treffen. Nun weiß ich, dass ich obsiegen werde. Gott ist mit mir. Ich strecke dem Dämon den Spiegel entgegen und intoniere die Worte, die mich der Seraphim gelehrt hat.
Ein Sog entsteht, von einem markdurchdringenden Brüllen begleitet. Ich glaube, auf der Stelle sterben zu müssen. Aber ich halte durch. Die Macht des Spiegels ist grenzenlos. Er zerfasert die Flammenfratze Svantevits und saugt sie in sich auf. Ich sehe die Panik in des Dämons Gesicht, dann hat ihn der Spiegel auf ewig gefangen.
Es ist vorbei, das unheimliche Tor schließt sich wieder…
»Aber Eskil von Lund hatte sich geirrt«, fuhr Bruder Claudius in seiner Erzählung fort. »Denn Svantevit war viel zu stark. Der Spiegel schaffte es nur, dem vierköpfigen Dämon eines seiner Gesichter zu entreißen. Aber selbst dieses konnte er nicht vernichten. Stattdessen fuhr Svantevits Flammengesicht durch den Spiegel in Eskil.«
»Wow«, sagte Zamorra. »Eskil von Lund war also ein Besessener.« Er schaute nach vorne, an Nicole vorbei. Sie waren dem Ruderboot bereits nahe. Soeben sprang eine dunkle Gestalt ins Wasser und tauchte ab. Am Meeresboden war plötzlich ein geheimnisvolles, orangefarbenes Wabern zu sehen.
»Scheiße«, schrie Nicole wenig damenhaft. »Das ist das Weltentor!«
»Schnell, Bruder Claudius, das Ende der Geschichte«, übertönte sie Zamorra. »Es könnte wichtig sein.«
Der Zisterzienser balancierte am Steuerhebel, riss ihn links und rechts. Das Boot schanzte förmlich über die mondbeschienenen Wellen.
»Ja! Eskil konnte Svantevits Gesicht all die Jahre kontrollieren, die er noch lebte. Der geviertelte Dämon hatte keine Chance gegen Eskils reinen Geist und starken Glauben. Zumal der Seraphim ihm beistand. Bevor Eskil als Zisterziensermönch starb, bestimmte er einen Bruder zum Nachfolger, der genauso stark im Glauben war wie er selbst. Dieser musste bei Eskils Tod anwesend sein, denn das furchtbare Gesicht Svantevits springt im Moment des Todes seines Wirtskörpers immer auf die Person über, die am nächsten
Weitere Kostenlose Bücher