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083 - Das Ende der Unschuld

083 - Das Ende der Unschuld

Titel: 083 - Das Ende der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Zybell
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wieder!)
    Der Sol hatte ihnen das Wunderwerk schon oft gezeigt. Tief in seiner Speichereinheit trug er es - jedes Segment des Gencodes, jedes Eiweiß, jede Schuppe, jede Einzelheit seiner Gestalt.
    Die Berufenen wurden nacheinander zum Brutlabor gebracht, an jedem Planetentag einer, manchmal auch zwei; seit über dreißig Planetenrotationen bereits. Nur er, der Sol, befand sich schon seit einer halben Gestirnumkreisung an der Stätte der Vollendung, um den letzten Schritt vorzubereiten.
    Und immer wenn ein weiterer Berufener draußen vor dem Eingang des Brutlabors abgelegt wurde, mischte sich eine neue Stimme in den Chor der Bittenden: (Wie lange noch, Ora’sol’guudo?), und: (Zeig ihn uns noch einmal!) Hin und wieder tat ihnen der Sol den Gefallen. Sie brauchten die Vision, und er brauchte sie auch. Dann holte er den Entwurf aus den Tiefen seiner Speichereinheit, dann ließ er das Bild entstehen. Das Bild des Modells, an dem sie fünfhundertsieben Gestirnumkreisungen lang gearbeitet hatten…
    ***
    Keiner sah mehr als nur Umrisse des anderen. Langsam, sehr langsam schälten sie sich aus der Dunkelheit. Je weiter die Morgendämmerung voran schritt, desto deutlicher.
    Seit Mitternacht standen sie auf ihre Schwerter gestützt.
    Bulba’han, der jüngere, einen Steinwurf weit entfernt von den Klippen. Und Mir’put, der ältere, auf der anderen Seite der flachen Mulde vor dem Waldrand. Kniehohes Gras und niedriges Birkengehölz trennte sie um ganz genau siebzig Schritte. Abgemessen von einer siebenfachen Mutter. Das musste so sein bei einem Kampf auf Bluterde; die altehrwürdigen Riten der Woiin’metcha, der Schwertkrieger schrieben es vor.
    Manchmal, wenn eine Böe vom See her über die Mulde und in den Wald fegte, sah Bulba’han, wie die Wipfel sich schüttelten. Und wenn zugleich der Nachthimmel aufriss und der Vollmond sein mattes Licht über Wald, Klippen und Seeufer streute, konnte er auch das weite Gewand seines Gegners flattern und seine blanke Klinge im Mondlicht aufblitzen sehen. Zwei Mal war das geschehen seit Mitternacht.
    Mitternacht und Vollmond - auch den Zeitpunkt schrieb das Gesetz der Erzväter zwingend für zwei Schwertkrieger vor, die einander auf Bluterde gegenübertraten. Das geschah selten. So selten, dass es nur drei Bluterde-Stätten am Ufer des Sees gab.
    Alle drei lagen viele Tagesreisen voneinander entfernt. Mir’put und Bulba’han und ihre Begleiter hatten ungezählte Speerwürfe zurückgelegt und große Strapazen auf sich genommen, um ihr Lager in der Nähe der Bluterde am westlichen Seeufer aufschlagen zu können.
    Genau siebenhundert Schritte entfernt, wie es der Erzväterritus für Schwertkämpfe auf Bluterde vorschrieb.
    Aus den Augenwinkeln sah Bulba’han die sechs Seher am Klippenrand ihre Arme heben. Der milchige Streifen am östlichen Horizont nahm allmählich eine rötliche Färbung an.
    Lange konnte es nicht mehr dauern, bis die Sonnenscheibe sich zeigte. Und dann würde alles sehr schnell gehen: Die Sonne würde sich vom See lösen, die Seher würden die Macht im See anrufen und danach ihre Gesichter verhüllen: das Zeichen, das den Kampf eröffnete.
    So weit hatte die Nacht sich schon zurückgezogen, dass Bulba’han bereits das Gesicht seines Gegners von seiner Kapuze unterscheiden konnte. Auch das nächtliche Schwarz seines weiten Gewandes verwandelte das erste Licht des neuen Tages allmählich in seine eigentliche Farbe, ein dunkles Rot.
    Und zwischen den Bäumen des Waldrandes erkannte Bulba’han jetzt sogar die letzte Abordnung der Zeugen und den Seher, der noch fehlte. Fünfzehn Männer lösten sich aus Dunst und Gestrüpp. Sieben gesellten sich zu den zweiundvierzig rechts der Mulde, sieben zu den zweiundvierzig auf der linken Seite.
    Der Seher lief an Bulba’han vorbei - gemäß des Rituals sah er den jungen Schwertkrieger dabei nicht an -, stellte sich an den Klippenrand und begann mit erhobenen Armen zur Macht im See zu beten.
    Die erste Stunde von Mitternacht an hatten Bulba’han und Mir’put ganz allein auf Bluterde verbracht. In der Mitte der Mulde trafen sie sich. Sieben Verbeugungen, dann sieben Mal symbolisch die Klingen gekreuzt, danach die Blutmale am Rand der Mulde aufgesucht, die ein Seher und die siebenfache Mutter vor Sonnenuntergang in die Erde gerammt hatten: abgebrochene Schwertklingen mit über den Knauf gestülpten Totenschädeln.
    Das altehrwürdige Gesetz der Woiin’metcha hatte diese Stunde unter vier Augen einer möglichen Versöhnung

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