0850 - Rache aus der Totenkammer
Mitte zusammenzulaufen, so daß eine neue Gestalt entstand.
Ein Wesen?
Jochem merkte kaum, daß er sich über die Augen wischte. Aber er hatte sich geirrt.
Aus diesem Zeug war ein menschlicher Umriß entstanden, die Gestalt einer Frau, ohne festen Körper – ein Geist!
Das ist nicht möglich! Das gibt es nicht! Das kann nicht sein. Jochem glaubte, endgültig irre zu werden, denn wer da erschienen war, ausgebrochen aus dem Maul dieser Fratze, das war eine Person, die er kannte.
Es war eine Tote.
Der Geist einer Toten.
Rita Reinold hieß sie. Sie war vor einigen Jahren in dieser Zelle grausam hingerichtet worden…
***
Noch zitterte die Gestalt und floß an ihren Umrissen. Sie war ein unruhiges Wesen, ein Etwas, das sich in einem Zwischenstadium befand, als könnte es sich nicht entscheiden, ob es nun so bleiben oder sich verändern sollte.
Eines jedoch war für Franz Jochem klar zu erkennen. Da hatte er sich auch nicht geirrt. Er kannte diese kalte, neblige, feinstoffliche Gestalt, deren Masse aus dem Maul der Fratze geflossen war, was schon einem Sturzbach geähnelt hatte.
Je mehr Zeit verstrich, um so stärker bildete sich Rita Reinold hervor. Der fassungslose Franz Jochem war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Er starrte ohne Unterlaß auf die Person, die eigentlich hätte tot sein müssen, es aber nicht war.
Oder doch?
Der Mann kam nicht mehr zurecht. Er war in dieses Haus X gekommen, um auf seine Weise von ihm Abschied nehmen zu können.
Er hatte sich verabschieden wollen, er hatte sich auch geschämt, er war auch bereit gewesen, so etwas wie Buße zu tun, und nun sah er sich mit Vorgängen konfrontiert, mit denen er nicht zurechkam.
Er sah zwei Dinge, zwei Tatsachen.
Direkt vor ihm stand die Gestalt der Rita Reinold, eine Frau, die einmal in dieser Zelle ihr Leben gelassen hatte, und hinter ihr an der Wand sah er die bösartige Fratze eines Wesen, für das der Mann keine Erklärung und keinen Ausdruck fand.
Es war eine Fratze. Blaugrau, mit einer ledrig anmutenden Haut, die gleichzeitig von mehreren Rissen durchzogen war, wie ehemals feuchte Erde, die unter den Strahlen einer starken Sonne getrocknet war. Damit kam er nicht zurecht.
Seine Lampe zitterte. Er wollte weglaufen. Nur konnte er dieser seltsamen Macht nicht entkommen, die sich über ihn gelegt und ihn auf der Stelle gebannt hatte. Sie war da, sie zwang den armen Jochem, diese Frau anzuschauen.
Mittlerweile hatte sich Rita weiterentwickelt. Ihr Körper hatte an Festigkeit zugenommen. An den Rändern schimmerte sie nicht mehr so stark, auch das Zucken hatte nachgelassen. Selbst die Haare glichen keinem blassen Gespinst mehr. Sie nahmen Farbe an, und kriegten auch Fülle.
Rita Reinold hatte rötlichbraunes Haar gehabt, daran konnte sich Franz gut erinnern. Das kehrte jetzt zurück.
Auf geheimnisvolle Weise bildete sich jede einzelne Strähne, damit die Haarflut auch wieder die nötige Fülle bekam. Sie hing glatt zu den Seiten des Kopfes herab, als Rahmen für ein blasses Gesicht mit dünner Haut und etwas hochstehenden Wangenknochen, die Rita stets einen leicht slawischen Ausdruck gegeben hatten. Hinzu kam der weiche Mund mit den vollen Lippen, die etwas schräg stehenden Augen mit den grünen, katzenhaften Pupillen, die geschwungenen Brauen darüber, die gerade Nase, das alles sah so lebendig aus und stach von dem übrigen Körper ab, der in seiner Verwandlung noch nicht zu dem zurückgefunden hatte, was er einmal gewesen war.
Noch war der Körper bleich. Nur stammte dieser Farbton nicht allein von der blassen Haut. Franz Jochem erkannte sehr deutlich das weiße Kleid, das Rita trug.
Nein, kein Kleid.
Es war ihr letztes Hemd, das man ihr übergestreift hatte. Ein Toten- oder Leichenhemd.
Der Beobachter schluckte, ohne daß sich Speichel in seinem Mund angesammelt hätte. Darin herrschte eine Trockenheit vor, die er mit einer Wüste verglich.
Furcht und Neugierde durchfluteten ihn. Da war jemand zurückgekommen vielleicht um sich zu rächen, denn derartige Geschichten gab es schließlich.
Seltsamerweise verspürte der Mann keine Angst. Er wußte genau, daß diese Person zwar zurückgekommen war, ihm aber nichts Übles wollte. Sie stand ihm neutral gegenüber. Zwar atmete sie einen unheimlichen Hauch aus, er spürte auch weiterhin Kälte, aber es war nicht der Eindruck, dicht an der Schwelle des Todes zu stehen, wobei ein kleiner Schritt ausreichte, um diese Linie zu überschreiten.
Rita Reinold stand in der Zelle.
Oder
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