086 - Das Grab des Vampirs
hellwach. Sie vermutete ein Geheimnis und nahm sich vor, in den kommenden zwei Wochen herauszufinden, weshalb de Marcin dieses Dienerehepaar im Schloß duldete.
Lady Tessa hatte praktisch an allem etwas auszusetzen. Die Marmelade war ihr zu süß, die Wurst zu fett, die Butter zu hart und kalt – und überhaupt, so meinte sie, frühstückte es sich angenehmer in einem Raum mit Fenstern. Sie liebte es, am frühen Morgen auf das weite Land oder noch besser aufs Meer hinauszusehen.
„Sag du doch auch einmal etwas!“ forderte sie ihren Mann streitsüchtig auf, als niemand sich zu ihren Beschwerden äußerte.
Lord Wellsley blickte auf, nickte seiner Frau freundlich zu und entgegnete: „Du hast vollkommen recht, meine Liebe.“
Und damit wandte er sich wieder seinem Hörnchen zu, das er liebevoll mit Butter bestrichen hatte.
Als Lady Tessa sich an ihre Tochter wandte, hatte sie noch weniger Erfolg. Ira Bergmann fiel auf, daß June den Comte Maurice de Rochelles ständig anstarrte. Sie fühlte Eifersucht in sich aufsteigen. Was bildete sich dieses junge Ding eigentlich ein? Sie konnte doch höchstens siebzehn Jahre alt sein. Für den Grafen, den sie auf Mitte der Dreißig schätzte, war sie gewiß zu jung.
Dietmar Runge trat ihr auf den Fuß.
Empört wandte sie sich ihm zu. Er lächelte und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Sie begriff überhaupt nicht, was er meinte. Deshalb nutzte sie die erste Gelegenheit, die sich nach dem Frühstück ergab, ihn zu fragen.
„Weshalb trampelst du wie ein Elefant auf meinen Füßen herum?“
Sie schlenderten auf die Klippen zu.
„Habe ich dir auf die Füße getreten?“
„Deine Ironie ist vollkommen fehl am Platze.“
„Ich hatte lediglich die Absicht, dich zu dir zu bringen.“
„Mich zu mir zu bringen?“ Ira war vollkommen fassungslos. „Was willst du damit sagen?“
„Es war schon fast peinlich, wie du den Comte angesehen hast. Wie ein kleiner, dummer Teenager hast du vor ihm gesessen und ihn angehimmelt.“
„Das ist nicht wahr!“ rief sie betroffen. „Wie kannst du so etwas sagen!“
„Ira, du hast schon immer diesen Stich nach oben gehabt. Ich kann verstehen, daß dich ein Comte fasziniert, aber …“
„Stich nach oben! Du bist verrückt! Ein Comte ist ein Mann wie jeder andere. Gesellschaftsschranken wie früher gibt es doch nicht mehr. Bürgerliche und Adlige stehen auf einer Stufe.“
„Aha! Du befaßt dich also schon mit Heiratsplänen. Hoffentlich ist der Comte auch damit einverstanden.“
„Du bist ja bloß eifersüchtig.“
„Ira, sei doch vernünftig! Stell dich nicht mit June auf eine Stufe! Wenn du den Grafen unbedingt auf dich aufmerksam machen willst, dann benimm dich nicht wie sie, sondern wie ein erwachsenes Mädchen.“
„Ich will den Grafen nicht auf mich aufmerksam machen.“
„Was willst du dann?“
Sie blickte ihn an, und er erkannte, daß sie selbst nicht wußte, was sie wollte. Er legte ihr seine Hände auf die Schultern und wollte sie an sich ziehen, doch sie wich ihm aus, so daß seine Lippen nur ihre Wange streiften.
Sie entzog sich ihm und eilte bis an die Klippe. Eine Brise kam auf und wirbelte ihr Haar durcheinander.
„Eine verrückte Gesellschaft ist das hier“, sagte Runge. „Fühlst du dich hier wirklich wohl?“
„Am ersten Tag, Dietmar, läßt sich das noch nicht sagen.“
„Dieser finstere Kastellan Albert, der direkt von einem Piratenschiff gekommen zu sein scheint, und dazu seine Frau Emilie, die vor irgend etwas Angst hat und vollkommen eingeschüchtert ist. Ich habe das Gefühl, die beiden sind heilfroh, wenn wir verschwinden. Und Alphonse de Marcin, ein verarmter Adliger, der unfähig ist, aus seinem Schloß eine erstklassige Hotelattraktion zu machen, ist harmlos genug, ein paar Pensionsgäste aufzunehmen, die mehr Kosten verursachen als Gewinn bringen.“
„Jetzt fehlen nur noch ein paar Häßlichkeiten über den Comte und die drei Engländer.“
„Die Engländer finde ich eigentlich recht sympathisch.“
„Besonders June, nicht wahr?“
Runge lächelte.
„Aha!“ sagte er. „Du möchtest also auf der einen Seite einen möglichst heftigen Flirt mit dem Comte, auf der anderen Seite aber möchtest du verhindern, daß mein Interesse an dir erlischt, damit ich dich auffangen kann, falls der Comte dich fallenlassen sollte.“
„Jetzt gehst du zu weit!“
„Ich habe eher den Eindruck, daß wir uns auf der Stelle drehen.“
Sie blickten sich an, und Dietmar Runge fühlte, daß er
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