086 - Das Grab des Vampirs
finanziellen Schwierigkeiten befand.“
„Und was hat er getan?“ fragte Lady Tessa. „Hat er sich scheiden lassen, um Bianca zu heiraten?“
„Aber nein! Er brachte Bianca um, da er einen Skandal fürchtete. Er schnitt ihr mit einem Messer die Kehle durch und warf sie über die Klippen ins Meer.“
„Wie furchtbar!“ rief June bestürzt.
Ira Bergmann wußte nicht, was sie sagen sollte. Die Ereignisse lagen zweihundert Jahre zurück. Daß sie sich hier im Schloß abgespielt hatten, sollte sie eigentlich nicht berühren; und dennoch war es so. Sie fühlte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief.
„Nun behaupten die Leute im Dorf und in der Umgebung des Schlosses, Graf Marcel müsse für den Mord an dem jungen Mädchen ewig büßen.“
„Wurde er nicht als Mörder entlarvt?“ fragte Ira.
„Erst nach seinem Tode. Er ertrank im Atlantik, so steht es in der Chronik“, berichtete de Marcin. „In seinem Testament stand sein Geständnis, das voller düsterer Ahnungen war. Das Verbrechen scheint den Grafen schwer belastet zu haben, so daß ich fast annehmen möchte, daß er im Meer Selbstmord begangen hat.“
„Das ist doch noch nicht alles“, warf Runge ein. „Sie wollten uns doch noch mehr erzählen.“
„Sie sind ein kluger, junger Mann“, sagte de Marcin. „Man behauptet, der Geist des unglücklichen Grafen könne keine Ruhe finden. Man sagt, er irre in den Vollmondnächten ruhelos durch das Schloß. Junge Mädchen seien vor ihm in Gefahr, denn er verführe sie und sauge ihnen das Blut wie ein Vampir aus den Adern.“
Ira Bergmann mußte plötzlich wieder an den Mörder an der Landstraße denken. Sie fror. Jetzt erst begriff sie, was Dietmar hatte sagen wollen: Es gibt Mörder, die geistesgestört sind und sich in ihrem Wahn für Vampire halten. Sie bedauerte, ihn so unhöflich unterbrochen zu haben, blickte zu ihm hinüber und sah ihm an, daß er ähnliche Gedanken hatte.
„Natürlich ist das alles nur dummer Aberglaube“, fügte Alphonse de Marcin hinzu. „Graf Marcel ist nicht Graf Dracula. Es gibt keinen Vampir in diesem Schloß.“
„Aber die Leute im Dorf sagen es“, bemerkte June vorwitzig. „Sie haben mich gewarnt. Sie haben mir Knoblauch und ein Kreuz mitgegeben. Damit soll ich mich vor dem Vampir schützen.“
Sie blickte sich triumphierend um, weil sie glaubte, die anderen schockiert zu haben. Doch niemand achtete auf sie. Aller Aufmerksamkeit richtete sich auf den Comte Maurice de Rochelles, der mit einem eigenartigen Lächeln erklärte: „Heute nacht haben wir fast schon Vollmond. Ich bin gespannt, ob unsere Damen uns morgen früh ein Schauermärchen erzählen können.“
„Wie geschmacklos!“ sagte Lady Tessa.
Der Comte beugte sich zu ihr hinüber. „Sie, Lady, brauchen sich nicht zu fürchten. Sie sind schon ein wenig zu alt für den Feinschmecker.“
Bis auf Lady Tessa lachten alle Gäste. Lord Wellsleys Heiterkeit legte sich allerdings, als sie ihm einen strafenden Blick zuwarf.
„Man sagte mir, die Franzosen seien besonders amüsante und charmante Gesellschafter“, piepste die Lady mit einem süßlichen Lächeln. „aber hier in der Province sind wir wohl schon etwas zu weit von Paris entfernt.“
Ira Bergmann hörte kaum zu. Ihr gingen die Worte des Schloßherrn immer wieder durch den Kopf. Sie wußte, daß es zumindest einen Mörder gab, der nach Art der Vampire tötete. Natürlich glaubte sie nicht daran, daß es wirklich Vampire gab, Wesen, die nicht im hellen Sonnenlicht leben konnten, die kein Spiegelbild hatten und beim Anblick des christlichen Kreuzes Krämpfe bekamen. Aber sie hatte Angst. Wenn die Bevölkerung der Umgebung an einen Vampirmörder glaubte, dann mußte sie einen triftigen Grund dafür haben, obgleich die Polizei von St. Brieuc sich so verhalten hatte, als sei sie davon überzeugt, Ira hätte eine Bauernlegende zu einer Sensationsgeschichte aufblähen wollen.
Sie fühlte, wie ihr erneut ein kalter Schauer über den Rücken lief. War es nicht möglich, daß der Blutmörder sich in einer Vollmondnacht aufs Schloß schlich, um hier weitere Vampirmorde zu begehen?
Albert Maurnier, der Kastellan, kam herein und brachte eine Flasche Wein. Sah er nicht genauso aus wie der Mann, der sie aus dem Auto zu zerren versucht hatte?
Dietmar Runge, der ihr gegenübersaß, berührte ihren Fuß. Sie lächelte ihm zaghaft zu. Seine Anwesenheit am Tisch beruhigte sie. Zugleich aber fiel ihr auf, daß sie zum erstenmal seit langen Minuten überhaupt
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