086 - Das Grab des Vampirs
merkte, daß er da war. Warum hatte sie immer nur das häßliche Faktotum Albert und den rätselhaften Comte Maurice de Rochelles angesehen?
Wie aus weiter Ferne drangen die Worte der anderen an ihre Ohren. Sie unterhielten sich über Vampire und Werwölfe und die Abwehrmöglichkeiten. Ira dachte nur an den Blutmörder von der Landstraße. Sie sah das zierliche nackte Mädchen wieder vor sich. Längst hatte sie eingesehen, daß Dietmar Runge recht gehabt hatte. Der Mörder hatte seinem Opfer tatsächlich die Kehle mit den Zähnen zerrissen. Sie hatte das Opfer fotografiert, und die Aufnahmen waren gut geworden. Dann hatte sie den Mörder fotografiert und keinen Erfolg gehabt.
„Kann man eigentlich einen Vampir fotografieren?“ fragte sie mitten in die Diskussion hinein.
Die anderen Gäste blickten sie erstaunt an. Sie hatten vom Vampirismus bereits zu allgemeinen Geistererscheinungen und zur Parapsychologie übergewechselt.
„Das weiß ich nicht“, antwortete Alphonse de Marcin. „Ich habe niemals versucht, einen Vampir auf den Film zu bannen.“
„Aber sicher doch!“ rief Lord Wellsley schmunzelnd. „Schließlich gibt es doch genügend Vampirfilme, die das beweisen. Ich denke zum Beispiel an ‚Draculas Tochter’ oder an den Film von Roman Polanski.“
„Sei doch nicht albern!“ sagte Lady Tessa heftig. „Die Dame aus Deutschland meint doch etwas ganz anderes.“
„Eine interessante Frage“, sagte Comte Maurice de Rochelles und blickte Ira an.
Diese merkte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Sie freute sich, daß er sich ihr zuwandte.
„Man sagt, daß Vampire kein Spiegelbild haben. Daraus ergibt sich eigentlich: Benutzen Sie eine Spiegelreflexkamera, dann werden Sie kein Bild bekommen. Mit jedem anderen Fotoapparat müßte ein Vampir aufzunehmen sein.“
„Ich habe eine Spiegelreflex.“
„Ach, und Sie haben versucht, einen Vampir auf den Film zu bannen?“ fragte Lady Tessa spöttisch.
„Es war nur eine theoretische Überlegung“, bemerkte Runge, der Ira zu Hilfe kommen wollte.
„Die junge Dame war Zeuge eines gräßlichen Mordes“, erklärte Albert Maurnier, der unbemerkt hinter sie getreten war und ihr Wein nachschenkte.
Ira fuhr erschrocken herum, doch der Hausdiener schlurfte bereits weiter, stellte die Weinflasche neben Alphonse de Marcin auf den Tisch und ging hinaus. Vergeblich fragte Ira sich, woher Albert Bescheid wußte.
„Sie müssen uns unbedingt erzählen, was Sie erlebt haben“, drängte der Comte. „Haben Sie tatsächlich den Vampirmörder gesehen?“
„Herr Runge und ich haben das Opfer gefunden“, antwortete Ira ausweichend. „Woher wissen Sie davon?“
„Es stand in den Zeitungen, daß junge deutsche Touristen, die auf einem Schloß in der Bretagne Urlaub machen wollen, dem Vampirmörder begegnet sind.“
„Dann ist dieser Vampirmörder hier in der Gegend bekannt?“ fragte Runge.
„Nein, mein Freund“, erwiderte der Comte. „Er ist zum erstenmal aufgetaucht. Ich jedenfalls habe noch nie von ihm gehört.“
„Welch ein unerfreuliches Thema“, sagte Lady Tessa. „Können wir nicht über etwas anderes sprechen?“
„Aber gern“, entgegnete Alphonse de Marcin und erhob sich.
Die Tischgesellschaft löste sich auf. Comte de Rochelles kam um den Tisch herum zu Ira. Er erreichte sie, bevor Runge zu ihr gehen konnte.
Verärgert zog der Medizinstudent sich zurück. June fiel ihm auf. Er wäre fast über sie gestolpert, als sie absichtlich stehenblieb. Ihre Wangen röteten sich, während ein schelmisches Lächeln ihre Lippen umspielte. Er entschuldigte sich. Und dann kam ihm eine Idee. Er fand June durchaus nicht reizlos. Warum, sollte er sich nicht ein wenig mit ihr beschäftigen? Das würde Ira eifersüchtig machen und sie damit vom Comte ablenken. Gegen den Comte hatte Runge eine unerklärliche Abneigung, die nicht allein damit zu tun haben konnte, daß dieser sich für Ira interessierte. Er mußte zugeben, daß er eine eigenartige Persönlichkeit war, die auch auf ihn eine seltsame Anziehungskraft ausübte, das blasse Gesicht mit den dunklen traurigen Augen besaß soviel Ausdruckskraft, daß man nicht einfach daran vorbeigehen konnte. Der Comte war unbestreitbar etwas Besonderes. Auch an körperlicher Kraft schien es ihm nicht zu mangeln, obwohl sein hohlwangiges Gesicht und seine langen, hageren Hände eher auf das Gegenteil schließen ließen; doch er bewegte sich wie ein Mann, der sich seiner Kräfte bewußt war.
Runge machte June ein
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