0862 - Der Leichenmantel
Gestalt. Die Arme ausgestreckt, als wollte sie uns noch im Tod willkommen heißen. In der unteren Hälfte zeigte das Gesicht einen anderen Ausdruck als in der oberen. Die Mundpartie war verzerrt. Es sah so aus, als wollte sie uns angrinsen.
Wir stiegen beide über den querliegenden Körper hinweg. Zwei Schritte später blieb Suko neben einer Tür stehen, die nicht geschlossen war. »Das war ihre Zelle.«
Ich sah Licht, das durch den Spalt fiel. Von Sukos Erzählungen wußte ich, daß das vergitterte Fenster der Zelle frei lag, trotz der Tiefe des Kellers. Aber das Gebäude war in den Hang hineingebaut worden, deshalb hatte es dazu kommen können.
Mein Freund zog die Tür ganz auf.
Der freie Blick in die Zelle, und wir sahen die nächste Leiche. Sie lag sehr günstig, weil das Tageslicht durch das Gitterfenster fiel und sich auf dem starren Körper verteilen konnte.
»Das ist sie«, murmelte Suko.
»Wer?«
»Gitta, die Chefin der Namenlosen, die Anführerin. Sie ist die schlimmste von allen gewesen.«
»Das kann ich mir denken.«
Ich ging an Suko vorbei und schaute sie von oben her an. Ihre Lippen schienen bleich durch den Schaum, der aus dem Mund gedrungen war.
Ich wollte mich schon wieder umdrehen, als ich das Geräusch hörte. Ein Stöhnen…
Und gestöhnt hatte die Tote!
***
Sofort waren wir hellwach und voll da. Hatten wir bis zu diesem Zeitpunkt auch noch wie eingefroren gewirkt, so standen wir plötzlich unter Strom. Suko und ich handelten gleichzeitig. Wir gingen in die Knie und leuchteten Gittas Gesicht an.
Es war ein knochiges, gleiches, ein kantiges Gesicht mit dunklen Augen und auch verzerrten Zügen, die, obwohl sie noch lebte, sie aussehen ließen wie eine Tote.
Gittas Lippen zuckten. Etwas geschah im Innern des Körpers. Aus der Kehle stieg abermals Schaum in die Höhe und drang durch den Lippenspalt hervor. Sie bewegte auch ihre Augen, obgleich sie noch immer starr aussahen.
»Hoffentlich kann sie reden!« flüsterte Suko.
Ich schwieg. Viel Hoffnung hatte ich nicht. Gitta stand kurz vor dem Tod. Daß sie noch lebte, erschien mir als kleines Wunder. Die Schatten der Gitterstäbe zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab, und wieder drang ein tiefes Stöhnen hoch.
Suko brauchte etwas Platz und schob mich zurück. Er sprach Gitta direkt an. »Hörst du mich? Kannst du mich verstehen? Kannst du erkennen, wer hier neben dir sitzt?«
Sie schwieg.
»Kannst du reden?«
Täuschte ich mich, oder war so etwas wie Leben in ihre Augen zurückgekehrt. Ja, denn zugleich bewegte sich auch ihr Mund, und wir schauten zu, wie sich die fast tote Frau darum bemühte, einige Worte hervorzubringen.
Zunächst verstanden wir nichts, denn was aus ihrem Mund drang, glich einem Röcheln. Dann zuckte sie am gesamten Körper, und plötzlich hob sie den rechten Arm an, wobei sie es sogar schaffte, die Finger zu spreizen. Die Hand bildete eine Kralle, und sie klammerte sich zielsicher an Sukos linkem Handgelenk fest.
Für mich war es ein Zeichen, daß Gitta noch nicht angefangen hatte. Daß sie kämpfen und uns möglicherweise noch etwas mitteilen wollte. Aus ihrem Mund fuhr ein zischender Laut. Der weiße Schaum bewegte sich auf ihren Lippen, die kleinen Blasen zerplatzten, wir sahen sogar ein Stück Zunge.
»Was ist passiert?«
Diesmal hatte sie die Frage nicht nur gehört, sie war auch bereit, eine Antwort zu geben, obwohl es ihr schwerfiel. »Tot, wir sind fast tot…«
»Nur du lebst noch…«
»Ja.«
»Warum?«
Gitta verdrehte die Augen. »Ich… ich… habe gewartet, bis sie alle das Gift nahmen. Wir haben es uns immer vorgenommen. Wir mußten es tun, wir haben es uns versprochen, wenn es keine andere Lösung mehr gibt. Wir haben eine Niederlage erlitten und trotzdem einen großen Sieg errungen, denn es ist noch nicht vorbei, nein, nicht vorbei…«
Ich wunderte mich über die Kraft der Sterbenden und über die gesprochenen Worte. Wenn ich sie richtig interpretierte, dann ging der Fall noch weiter.
»Was ist nicht vorbei, Gitta?« Ich kannte Suko. Auch wenn er sich beherrschte, er stand trotzdem unter einer scharfen Spannung, und er starrte die bleiche Frau an.
»Mit… mit… dem Tod…«
»Was wollt ihr noch? Was willst du? Wir können versuchen, dich zu retten, wir…«
»Nein, nein!« Ihr Griff wurde noch härter, und die Antwort hatte schon nach einem Schrei geklungen. Sie hustete, und etwas von dem weißen Giftspeichel sprühte weg. »Wir sind gerettet. Wir haben uns selbst gerettet. Wir
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