0881 - Das Kind der Mumie
Suko auch eine sehr gute Beschreibung gegeben hatte, würde sie ihn wohl finden können, wenn sie das entsprechende Glück hatte.
Das sah nicht so aus, denn als sie den Supermarkt verließ und auf den Parkplatz ging, war die Helligkeit des Tages dabei, sich zu verabschieden. Die Dämmerung hatte sich über den großen Parkplatz gelegt. Der Himmel sah aus wie grob schraffierter Schiefer. Graue Wolken drückten sich wie lange Zungen in die noch verbleibende Resthelligkeit hinein, und ein sehr blasser Vollmond hatte bereits seinen sichtbaren Auftritt am Himmel.
Es mußte sich sogar in Windeseile bis auf den Parkplatz herumgesprochen haben, daß etwas Ungeheuerliches geschehen war, denn einige Kunden, die den Laden verlassen hatten, sprachen mit denen, die noch hinein wollten, berichteten hektisch und mit ihren schrillen Stimmen von einem grauenvollen Vorfall, und nicht wenige trauten sich nur bis an die Scheiben heran, um den ersten Blick erhaschen zu können, was ihnen allerdings schwerfiel, da große Teile der Glasflächen durch Werbeplakate verklebt waren. Shao kümmerten die Menschen nicht, sie hatte eine Aufgabe bekommen und suchte den Jungen mit den goldenen Augen.
Wo sollte sie anfangen?
Der Parkplatz war ziemlich groß und auch sehr gut belegt. Es gab kaum freie Parktaschen. Manche Wagen verließen den Komplex, neue kamen. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Da es inzwischen relativ dunkel war, kam sich Shao dort ziemlich verloren vor. Sie blieb zwischen zwei Fahrzeugen stehen, überlegte, nagte an den Lippen und hatte dabei die Hände in die Taschen ihrer gelben, weitschwingenden Jacke geschoben. Es war kühl geworden. Der Wind hatte sich gedreht, er kam von Osten, und auch die Sonne zeigte sich nicht mehr. Im Westen hatte sie nur eine rote Färbung hinterlassen.
Shao konnte einfach nicht davon ausgehen, daß der Junge allein unterwegs war. Andere konnten ihn geschickt haben. Helfer und Unterstützer, mit denen er zusammenarbeitete, für die er möglicherweise nur so etwas wie ein Mittel zum Zweck war. Das alles schoß Shao durch den Kopf, und sie dachte auch einen Schritt weiter. Wenn ihre Vermutungen stimmten, hätten diese Helfer keinen Grund, den Jungen noch weiterhin allein zu lassen. Sie konnten auf ihn gewartet und ihn weggeschafft haben. So hätte es laufen können.
Dennoch wollte Shao nicht aufgeben, denn immerhin bestand noch ein Rest an Hoffnung. Sie hatte sich einen Plan zurechtgelegt, um den Parkplatz nach bestimmten Regel zu durchsuchen.
Sie fing dort an, wo die zahlreichen Einkaufswagen standen. Sie bildeten eine lange Reihe, sie waren ineinandergeschoben und standen neben der Mauer eines Flachbaus, der ebenfalls zum Supermarkt gehört und wohl als Lager diente.
Shao ging an der Reihe der Wagen entlang. Viele standen nicht mehr zusammen, und sie ließ ihre Handfläche über die Metallränder der Fahrzeuge gleiten.
Keine Spur von dem unbekannten Jungen.
Andere Kunden, die sich den einen oder anderen Einkaufswagen holten, streifte ihr Blickfeld. Sie spielte mit dem Gedanken, einen zu fragen, ließ es aber bleiben, sie wäre sowieso nur auf Unverständnis gestoßen. Auf der anderen Seite ärgerte auch sie sich darüber, daß sie an Sukos Worten gezweifelt hatte. Sie hätte viel früher nach diesem Jungen suchen sollen, dann wäre ihr so manches erspart geblieben.
Sie hatte es nicht getan, jetzt mußte sie dafür zahlen. Am Ende der Wagenreihe blieb sie stehen. Sie markierte auch gleichzeitig das Ende dieser Parkplatzseite. Wenn Shao nach links schaute, sah sie eine Straße und einen breiten Gehsteig, auf dem die Container für die verschiedenen Abfälle wie Glas, Papier und Lumpen standen. Die Dinger erinnerten sie an übermenschengroße umgedrehte Schaukeln.
Über die Straße rollten Fahrzeuge. Auf der anderen Seite befand sich ebenfalls ein kleiner Parkplatz, der zu einem Hotel gehörte. Durch die großen Scheiben konnte Shao in die erleuchtete Hotelhalle schauen, in der einige Gäste beisammenstanden und sich unterhielten.
Wohnte der Junge dort? Alles war möglich.
Sie saugte die Luft durch die Nase ein, ging noch ein paar Schritte weiter, wobei sie parallel zu den Containern lief. Die den Supermarkt umgebende Helligkeit war verschwunden. Shao geriet in ein Halbdämmern aus blauschwarzen Schatten und einem fahlen Restlicht.
Wo steckte der Junge?
Wahrscheinlich war er längst abgeholt worden, oder er hatte sich zurückgezogen.
Shao wollte wieder zurück in den Laden und
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