0882 - Der Sonnen-Dämon
drehen. Er schaffte es, ohne den Körper von der Stelle zu bewegen.
Er starrte sie an.
Augen, dachte Shao! Unheimliche und kalte Augen, sehr dunkel, gar nicht so raubtierhaft. Augen, die ich schon einmal gesehen habe, deren tödlichen Blick ich kenne und…
Das Raubtier war Sorath!
Plötzlich wußte sie es, und als hätte sie durch dieses Wissen einen Befehl erteilt, so bewegte sich das Tier und schaffte es, sich auf die Hinterbeine zu stemmen.
Der Junge rührte sich nicht. Er drehte ihnen den Rücken zu, aber das dritte Auge auf der Stirn des Psychonauten begann zu flimmern und sich zu bewegen. Es zuckte dabei wie eine frische Wunde.
Shao stellte fest, daß es allmählich die Form eines Dreiecks annahm und plötzlich dem uralten Symbol des Allsehenden Auges ähnelte, wobei allerdings der Strahlenkranz fehlte.
Das Allsehende Auge war nichts Schlechtes, es war ein Wunder, auch wenn es sich etwas verfremdet auf der Stirn des Psychonauten zeigte, der sich nicht mehr bewegte, weil ihn der Anblick des Raubtieres in den Bann geschlagen hatte.
Besonders der Kopf!
Es blieb nicht mehr bei diesem katzenhaften Schädel, denn andere Züge schoben sich nach vorn.
Menschliche…
Ledrige Haut, beherrscht von Falten und Runzeln. Ein schmaler Mund hatte das Maul abgelöst. Nur die Augen waren gleich geblieben und auch die hohe Stirn, und es war in diesem Fall eine männliche Sphinx entstanden.
Ein Bewacher dieser Welt. Eine Sphinx, die töten wollte. Die es nicht hinnehmen konnte, daß noch ein Zeuge existierte, das wußte auch Laroche.
Er bewegte seinen Körper nicht. Nur das Auge auf der Stirn glänzte, als trüge es die Verantwortung für diese große Verwandlung. Der Mund des Mannes war mit Speichel besprüht, den Kopf hatte er in den Nacken gelegt, er konnte einfach nicht anders und mußte in dieses schrecklich Mumiengesicht schauen, das so überhaupt nicht zu dem mächtigen Körper passen wollte.
Zugleich leuchtete im Hintergrund die Sonne auf. Doch es war ein kaltes, ein düsteres Leuchten, kaum vergleichbar mit der Kraft der normalen Sonne.
Und das Licht schob sich höher.
Immer dunkler wurde es. Eine gewaltige Scheibe, die schon sehr bald den gesamten Hintergrund des Himmels einnahm. Das war die Sonne der Finsternis, das war der Geist Soraths, der seinen Hohenpriester beschützen wollte.
Und Kinok?
Er hockte noch immer auf der Felsnase und rührte sich nicht. Er glich einem Menschen, an dem alles andere vorbeilief, einem Menschen, der sich ausschließlich mit seinen eigenen Gedanken beschäftigte.
Hatte Shao vorhin noch so etwas wie Mut gespürt, so verließ sie dieses Gefühl, denn sie rechnete stark damit, daß der Sonnen-Dämon seine fürchterliche Abrechnung in die Tat umsetzte…
***
»Du mußt etwas tun«, sagte Suko.
Das wußte ich selbst, und ich wollte ihn eigentlich fragen, warum gerade ich, aber ich dachte an mein Kreuz, auf dem ebenfalls das Allsehende Auge eingraviert worden war.
Bisher hatte mich die Szene innerhalb des magischen Hologramms unwahrscheinlich in Anspruch genommen. Als Suko mich angesprochen hatte, da war ich wie aus einem Traum erwacht, und ich reagierte so, wie ich es tun mußte, um die letzte Chance zu wahren.
Sekunden später lag das Kreuz auf meiner Hand, von Suko und auch von mir betrachtet.
Und beide sahen wir den leichten Glanz, der das Allsehende Auge nachzeichnete.
Ich hatte es bei unserer ersten Begegnung mit dem magischen Hologramm nicht hervorgeholt. Damals hatte ich nichts zerstören wollen, hier lagen die Dinge anders, weil ich davon ausgehen mußte, daß Shao und Guy Laroche sich in Gefahr befanden.
Das Allsehende Auge war ein Symbol des Guten, es wurde auch das Auge der Vorsehung genannt oder, da es sich innerhalb eines Dreiecks befand, auch das Delta. Von den alten Ägyptern erfunden, war es das Symbol des Osiris, des obersten Gottes, und es war später von der christlichen Kirche mit anderen Symbolen übernommen worden.
Auch die alten Griechen hatten das Symbol gekannt, denn nach einem Bericht des Philosophen Euripides war Osiris identisch mit Zeus und Dyonisos. Der Philosoph hatte auch von einer Auferstehung des Gottes Osiris nach vierzig Tagen berichtet, und es gab Menschen, die behaupteten, daß die Kirchenväter einige Tausend Jahre später diese Legende übernommen hatten.
In meinem Fall tat es nichts zur Sache, ich mußte nur plötzlich daran denken, als ich das Kreuz betrachtete, das auf meiner flachen Handfläche seinen Platz gefunden
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