0885 - Die Kralle des Jaguars
müssen. Die letzten fünf Stufen allerdings fielen aus dem Rahmen, die Zeichen darauf ließen nicht auf bestimmte Jahreszeiten, Saat, Ernte und ähnliche Festlichkeiten, sondern auf Opferrituale, Raubtiere, Dämonen und Ähnliches schließen. Oben angekommen, erkannten wir, dass vor dem Tempelgebäude ein Altar aus einem einzigen Monolithen stand, der einen seltsam roh behauenen Eindruck machte. Im Lauf der Jahre im feuchten Dschungel hatte er eine feste Patinakruste angesetzt, die wir für eine tropische Art der Flechte hielten.
Doch wir zollten dem zunächst keine Beachtung und genossen den Ausblick auf die Stadt - von hier oben absolut spektakulär. Zufrieden stellten wir fest, dass uns unsere bisherigen Messungen nicht getrogen hatten, die Stadt war exakt entlang einer Nord-Süd-Achse ausgerichtet!
Im Tempel selbst erwartete uns eine große Überraschung. Er bestand aus einem einzigen großen Raum, der keine Fenster besaß, nur winzige - ich nenne sie einmal in Ermangelung eines anderen Begriffes so - »Luftlöcher« an einigen Stellen, die zueinander seltsam asymmetrisch angebracht schienen.
Doch das Schönste waren die Bilder. Endlose Malereien und Fresken waren in diesem Allerheilig st en zu sehen, die komplette Geschichte einer Stadt. Auf einigen Wänden waren Schrift zeichen, auf anderen Malereien, die merkwürdige Riten darstellten, Opfer an die Götter und Szenen aus dem Alltag; Bauern, welche die Felder bestellten, Handwerker bei der Arbeit, die Krönung eines Königs, aber auch die Rituale, welche die Jesuiten hierzulande zu so strengen Inquisitoren gemacht haben. Zu recht: Da schnitten sich die Herrscher selbst an besonders schmerzhaften Stellen, um Blutopfer darzubringen, Menschen wurden gefoltert, um dem Sonnengott zu gefallen und was dergleichen Dinge mehr sind. Das Grausamste jedoch war die Szene auf der Westwand: Eine unübersichtliche Menge Menschen wurde auf dem Altar vor dem Tempel auf grausamste Weise geopfert - ein Priester, mit einem Jaguarfell bekleidet, riss ihnen bei lebendigem Leib das Herz aus der Brust. Mir wurde schaudernd klar, woraus die seltsam krümelige Patina auf dem Altarstein draußen bestand, und mir lief trotz der intensiven Sonne ein Schauder über den Rücken.
Haberland schien sich jedoch an der schrecklichen Grausamkeit der Szene nicht zu stören, sondern fackelte nicht lange, setzte sich und begann, die Bilder zu kopieren. Ich selbst versuchte, einen Anfang zu finden, denn in den letzten Tagen hatte ich an einer Entschlüsselung der Hieroglyphen gearbeitet. Ich fand ihn schon bald und begann mit der Übersetzungsarbeit.
Wir verbrachten einige Tage im Tempel, Fritz malte die Bilder ab, ich übersetzte. Abends verglichen wir unsere Arbeiten und versuchten, einige brauchbare Theorien zur Staatsphilosophie der Mayas zu entwickeln, bis wir zu müde wurden und Haberland in sein Zelt verschwand. Im Nachhinein wird mir wieder bewusst, dass jede der Nächte in unserem Lager bei Copán unheimlich still war. Ich kann nicht glauben, dass ich das damals nicht registrierte… und wieder stockt mir der Atem bei der Erinnerung an diese schreckliche Zeit und die grausame Dunkelheit, aber ich muss weiter berichten, ich muss! Ja, ich muss…
***
»Montejo!«
Zamorras Stimme drang über das Sprachengewirr hinweg, das aus zig Touristenkehlen drang und längst zum üblichen Hintergrundgeräusch von Copán geworden war. Er klang besorgt.
»Señor Montejo?«
Nicole richtete sich von der Treppe auf, auf der sie gesessen und in Connors Notizen geblättert hatte, und wandte sich um. Sie sah die restlichen Stufen hinauf zur Spitze des Bauwerks. Dort, in der kleinen Tempelanlage, 365 Steinstufen über dem Erdboden, hatten sich Zamorra und ihr mexikanischer Gastgeber mit den Maya-Relikten befassen wollen.
Plötzlich erschien Zamorra am oberen Treppenabsatz. Suchend blickte er die Stufen hinab und schien die Touristen zu sondieren, die hinauf und hinab flanierten. Als sein Blick auf Nicole traf, hob er fragend die Arme, dann wandte er sich wieder um und verschwand aus ihrem Sichtfeld.
Nicole wusste sofort, dass nicht alles in Ordnung war.
Binnen Minuten war die Französin die Treppe hinauf. Hitze hin oder her, sie waren nicht zum Vergnügen hier.
Jetzt jedenfalls nicht mehr. »Was ist los?« fragte sie, leicht außer Atem, als sie zu Zamorra trat. Der Professor kniete mitten in der Tempelanlage auf dem Boden und tastete mit seinen Händen den Boden ab. »Hann se de Kontaktlinse
Weitere Kostenlose Bücher