0885 - Die Kralle des Jaguars
auf diese Jahreszahl angesprochen und behauptet, dass sie im Maya-Kalender eine ganz besondere Rolle spiele. Natürlich ist mir das bekannt«, sagte der Franzose. »Aber ich fürchte, ich war ein wenig grob zu dem armen Mann. Und das, nachdem seine Vorlesung so katastrophal verlaufen ist. Dabei war das noch nicht einmal seine Schuld.«
Montejo lachte. »Damit stehen Sie nicht allein, Professor! Das Thema halten viele für Mumpitz, nicht nur in Europa, sondern auch hier bei uns. Zu oft schon wurde es in Romanen und Hollywoodreißern ausgewalzt, um noch ernst genommen zu werden.«
»Ich verstehe aber nicht, was dieser Kalender mit Connors Notizen zu tun haben soll«, fragte Nicole vom Beifahrersitz.
»Zunächst einmal gar nichts, meine Liebe«, antwortete der Dozent lächelnd. »Aber ist die Holistik, die Offenheit für alle möglichen Aspekte eines Forschungsthemas, nicht einer der Reize unserer Arbeit? Schauen wir doch einfach mal, was Copán und seine Ruinen uns zu bieten haben.«
Ruinen, dachte Zamorra und gab die Hoffnung auf, je wieder schmerzfrei sitzen zu können. Er zog sichtbar eine Grimasse. Ruinen und die Kulisse für eine uralte Geschichte, mit der sich ein egozentrischer Schotte vor seinen Vereinskollegen profilieren wollte. Rodrigo warf dem Professor einen halb amüsierten, halb spöttischen Blick zu. Er bedankte sich für dessen Skepsis, indem er gleich in zwei weitere Schlaglöcher fuhr.
***
Der Totenschädel starrte Nicole bereits seit einer ganzen Weile an. Und sie ihn, das Relikt war faszinierend. Zumindest hielt sie ihn für einen solchen; obwohl es sich laut dem überteuerten Reiseführer, den ihr das »Besucherzentrum« am Eingang der Ruinenanlage empfohlen hatte, um einen stilisierten Affenkopf handelte, der kunstvoll in Stein gehauen war. Ein Relikt aus Maya-Tagen - und längst nicht das einzige.
Copán war alt. Die umfangreiche Tempelanlage hatte eindeutig schon bessere Tage gesehen und litt sichtlich unter den Witterungseinflüssen und dem Lauf der Jahrhunderte. Viele der einst so prächtig verzierten Bauten waren kaum noch mehr als ein Haufen Steine, manche sogar mit Plastikplane abgedeckt - aber der Ort strahlte dennoch etwas Besonderes aus. Das Städtchen San Jose mit seinen Hotels, Bars und Geschäften war nur einen Steinwurf entfernt, die Ruinenanlage touristisch erschlossen und stark frequentiert, und dennoch konnte man sich in ihr, umgeben von beeindruckenden Stelen, Hieroglyphen und dem allseits präsenten Dschungel, des Eindrucks nicht erwehren, in eine andere Zeit gereist zu sein.
Copán Ruinas war die Welt der Mayas und bis heute eine ihrer beeindruckendsten Anlagen. Daran änderten auch die Horden von Touristen nichts, die das Gelände fluteten, als gäbe es dort Freibier. Wo immer man hintrat, stieß man auf sonnenbebrillte Schirmmützenträger mit Digitalkameras, auf Möchtegern-Indiana Jones-Typen und auf selbst ernannte Fremdenführer, die ihre fragwürdigen Geschichten für eine Handvoll Centavos an den leichtgläubigen Ausländer bringen wollten. Sie saßen auf den steinernen Treppen, lehnten sich an die prunkvoll verzierten Stelen aus den Tagen des Herrschers Waxaklahun Ubah, einem Herrscher, der vor rund 1200 Jahren in Copán regiert hatte und dessen Name übersetzt etwa »18 Kaninchen« hieß, aßen, tranken…
»Es fällt schwer, diesen Lärm auszublenden, oder?« Zamorra war herangetreten und sah Nicole an. »Von Urwaldromantik oder gar bösen Mächten ist hier wirklich nichts zu spüren, dafür sorgen schon die Touris.«
»Und es ist warm«, seufzte sie und fächelte sich mit ihrem Tropenhut Luft zu. Das Haar klebte an ihrer Stirn. »Die Temperatur allein wäre mir ja nicht unangenehm, aber irgendwie scheint die Hitze an diesem Ort förmlich zu kleben. - Aber…« Sie strahlte Zamorra an. »Ein Gutes hat die Hitze immerhin. Es gibt überall gekühlte Getränke, und genau so eins gönne ich mir jetzt. Ihr könnt ja schon mal zu diesem Sonnentempel vorausgehen, von dem der alte Connor geschrieben hat. Ich werde euch auch etwas mitbringen.« Sprach's und ließ Zamorra und die beiden mexikanischen Wissenschaftler stehen.
Kurze Zeit später saß sie mit einer kalten Dose Coca Cola auf der mächtigen Steintreppe, die zum Tempel führte. Hinter sich hörte sie Montejo und ihren »Chef« von der Schönheit der Anlage schwärmen. Sie würde sich später weiter mit ihr beschäftigen. Für den Moment gab es nur die kühle Limonade, und das angenehme Gefühl, in der
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