0885 - Die Kralle des Jaguars
zwei Stunden lang, mit Untertiteln und jeder Menge Hollywood-Blut.« Es war offensichtlich, was der junge Mexikaner von dieser Art der Darstellung hielt. »In einer Szene lassen die Mayas einige Gefangene auf dem Ballspielplatz frei und versprechen ihnen freies Geleit in ihre Heimat, wenn sie es schaffen, bis zum Ende des Platzes und somit in den rettenden Dschungel zu rennen. Und während diese Verzweifelten Fersengeld geben, packen die Bösen einfach Pfeil und Bogen aus und schießen sie ab.«
»Wie furchtbar«, sagte Nicole schaudernd. Sie und Zamorra kamen selten dazu, ins Kino zu gehen.
Rodrigo nickte. »Verstehen Sie mich nicht falsch, die Sitten waren damals durchaus rau. Aber schauen Sie sich nur hier in Copán um. Atmen Sie diese Atmosphäre ein, das Flair der Anlage… Es ist einfach unfair, eine Kultur, die derartige Bauwerke zustande brachte, einzig auf solch plakative Aspekte zu reduzieren. Was ist mit ihrer Architektur, ihrer Astronomie? Ist Ihnen aufgefallen, ss die Treppe zum Sonnentempel aus 365 Stufen besteht? Sie verweisen auf den haab , den Kalender des Sonnenjahres.«
Die offene Begeisterung, mit der der junge Mann von der längst untergegangenen Zivilisation sprach, steckte an und vertrieb für wenige Augenblicke die Sorge um ihren Begleiter.
Dennoch unterbrach Zamorra den enthusiastischen Redefluss ihres Begleiters. »Es nutzt nichts, wir können nicht mehr lange bleiben. Sobald es dunkel ist, wird die Anlage für die Nacht geschlossen - und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wo wir Montejo noch suchen sollen. Ich schlage vor, dass wir ins Hotel zurückkehren und uns einen systematischen Plan überlegen, den wir dann morgen früh umsetzen.«
»Und Javier?« fragte Rodrigo aufgebracht.
»Ihm können wir jetzt nicht helfen«, sagte Zamorra verständnisvoll. »Wir sind völlig unvorbereitet, haben keinerlei Anhaltspunkte. In San Jose können wir recherchieren und uns neu orientieren. Glauben Sie mir, morgen erreichen wir mehr.«
»Glauben Sie, dass er dem Jaguar zum Opfer gefallen ist?« Elians Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, so viel Resignation schwang in ihr mit.
»Dem aus McArdbegs Bericht?«, fragte der Franzose belustigt. »Da habe ich so meine Zweifel. Wie übrigens auch am Rest seiner Geschichte.«
***
Es ging unendlich viele Treppen hinab. Ich weiß nicht, ob es die Bewegung war, aber ich begann, wieder zu überlegen. Irgendwann brachte ich den Mut zu einer Frage auf: »Wo bringst du mich hin?«
Ich hatte den Eindruck, die Gestalt aus Dunkelheit bleibe stehen. »Ich bringe dich an einen Ort, der uns heilig ist. Du erfährst dort alles Nötige.« Seine Stimme wehte körperlos um mich herum.
Das war wenig befriedigend, aber trotz meiner drängenden Fragen gab der Dunkle nicht nach und schwieg. Nur seine endlos leisen Tritte, die man mehr erahnen als hören konnte, waren noch bei mir.
Endlich wurde es wieder hell, Fackeln brannten an der Wand der Halle, in der wir angekommen waren. Wäre ich in meinem Grauen nicht so gefangen gewesen, hätte mich der Raum als Archäologefasziniert; die bunt bemalten Reliefs an den Wänden, die federgestickten Vorhänge, der kostbare jadebesetzte und goldene Thron auf dem Podest. Aber ich muss weitererzählen, darf nichts auslassen; man könnte mir sonst nicht glauben, und das darf nicht passieren. Ich muss es erzählen!
Die Schönheit der Malereien wurde zerstört von den Szenerien unvorstellbarer Grausamkeiten, die sie darstellten: Unzählige Menschenopfer, jedes auf eine andere Weise grauenvoll zu Tode gebracht, waren zu erkennen. Doch das Schlimmste bekam ich nun zu sehen.
Fritz Haberland lag, an vier Pflöcken gefesselt, auf einer Steinplatte auf dem Boden vor dem Thron und schien bewusstlos zu sein. Ich wollte auf ihn zustürzen, konnte mich aber nicht rühren; meine Glieder schienen von unsichtbaren Fesseln gehalten. »Bleib stehen und sieh die Macht des Buluk Chapt ani «, raunte es eiskalt in mein Ohr and dann geschah es: Ich h ö rte ein Jaguarfauchen und sah, dass sich eine nahezu unsichtbare, riesige Klaue in Haberlands Brust senkte und ihm bei lebendigem Leibe das Herz herausriss. Ich bin sicher, dass ich laut schrie, lauter und länger, als ich je für möglich gehalten hatte. Fritz! Was hatte er getan? Er war von uns allen am unschuldigsten gewesen. Ich schrie, bis ich nicht mehr konnte.
Erschöpft schloss ich schließlich meine Augen, um nichts mehr zu sehen. Als ich sie wieder öffnete, sah ich, wie die
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