0886 - Der U-Bahn-Schreck
nächsten Minuten gab es nur die Wahrsagerin.
Er hörte ihr zu und verstand sie sehr deutlich, denn sämtliche Nebengeräusehe in seiner Umgebung waren in den Hintergrund getreten. Es gab nur ihn und die Frau.
Sie berichtete von seiner Frau, um die er sich Sorgen gemacht hatte, weil sie vor einem halben Jahr im Krankenhaus gelegen hatte. Sie sprach auch davon, daß er viel Post aus dem Ausland bekam, was auch stimmte, denn in Spanien lebte noch seine Verwandtschaft. Sie sagte ihm auf den Kopf zu, daß er nicht mit Kindern gesegnet sei, und auch das traf bei ihm zu. Und sie redete von seinen Sorgen, die ihn bedrückten, so stark, daß sie zu einer Last geworden waren.
Dieses Thema gefiel Polvera überhaupt nicht. Es kam ihm zu nahe an die Realität heran, und er nahm sich vor, die Frau zu unterbrechen, dies wiederum schaffte er nicht.
Er sah nur die Augen der Alten und entdeckte plötzlich das Erschrecken darin.
»Was ist?«
»Der Schatten…«
»Welcher Schatten?«
»Der Schatten des Unheils, des Todes. Du hast eine Begegnung mit dem Tod gehabt, aber du hast den Tod nicht richtig fassen können, weil es nicht der normale Tod gewesen ist. Ich lese in deinen Augen, daß dich dieser Tod nicht unmittelbar berührt hat, sondern nur indirekt zu dir gekommen ist, aber er hat dich wahnsinnig erschreckt und sogar deine Seele und Gefühle verändert.«
Sie schwieg, ließ die Worte wirken, die sich im Kopf des Mannes drehten. Er mußte der alten Frau recht geben, es war tatsächlich zu dieser Begegnung gekommen, aber wie konnte sie davon erfahren haben? Bisher hatte er sich geweigert, an die Aussagen irgendwelcher Wahrsagerinnen zu glauben, er hatte sie als Unfug abgetan, doch an diesem Tag war alles anders. Da hatte ihn die alte Frau schon zu sehr überzeugt, was seine eigene Vergangenheit anging.
»Soll ich weitersprechen?«
Gordon Polvera nickte, obwohl er vom Gegenteil überzeugt war. Nur schaffte er es nicht, sich aus diesem starken Bann zu lösen. Er sah, wie sich die Lippen der Alten bewegten und erste Worte aus dem Spalt hervorströmten.
»Ich lese aus deinen Augen, daß die Begegnung zwischen dir und dem nicht faßbaren Tod einen großen Schaden hinterlassen hat. Aber ich sehe auch, daß sie noch nicht abgeschlossen ist. Du wirst sie nicht los, du wirst erleben, daß sie dich noch einmal trifft, und du fürchtest dich davor. Tief in deinem Innern weißt du, daß es dazu kommen könnte, aber du willst es eigentlich nicht. Die Angst davor steckt tief in dir. Sie wird dich auch weiterhin quälen, weil du Dinge sehen wirst, die es eigentlich nicht geben darf.«
»Warum?«
»Weil du nicht begreifen kannst, daß eine Tote nicht tot sein muß, obwohl sie tot ist…«
»Verdammt!« keuchte er.
»Ja, es ist schlimm, aber glaube mir, mein Freund, das Leben ist voller Rätsel und Geheimnisse.«
»Was ist mit dem Tod?«
»Es ist eine Frau, die tot sein muß…«
»Ja, stimmt.«
»Aber sie ist nicht tot, obwohl du davon überzeugt bist, daß sie tot ist. Tief in deinem Innern aber hast du Furcht vor Ihr, das spüre ich genau. Du hast Angst, sie noch einmal zu sehen, obwohl dir dein Verstand sagt, daß es nicht sein kann.«
Polvera holte tief Luft. »Verdammt, was willst du denn noch alles damit sagen?«
»Nichts, mein Freund, nichts. Ich… ich … sehe nichts mehr. Es ist ein Schleier da. So eisig und kalt, wie es eben nur der schreckliche Tod sein kann. Nicht der normale Tod, er ist nicht schrecklich, denn er gehört zum Leben. Es gibt einen Anfang, und es gibt ein Ende, aber es gibt auch etwas dazwischen … dazwischen …«, murmelte die Wahrsagerin, und Polvera merkte, wie der Bann plötzlich brach.
Er tauchte aus dieser anderen Welt wieder auf, hörte die normalen Geräusche aus der Station an seine Ohren dringen und stellte auch fest, daß sich seine Muskeln vom langen Knien verkrampft hatten und anfingen zu schmerzen.
Mühsam stemmte er sich in die Höhe. Dabei schaute er zu, wie die Frau über ihre Augen wischte, als wollte sie ein gewisses Bild einfach fortputzen.
Sie kam dem Mann vor, als hätte sie sich über die eigenen Worte selbst erschreckt.
Er stand vor ihr. Allmählich klärte sich auch sein Blick. Die zweite Person erschien wieder in seinem Blickfeld - auch die mit Plakaten beklebte Wand hinter den beiden.
Die Normalität hatte ihn wieder, aber die Furcht und die Bedrückung waren geblieben.
Zukunftsangst…
Etwas stimmte nicht mehr mit ihm. Die Worte der alten Frau hatten einiges
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