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0890 - Die Vergessenen

0890 - Die Vergessenen

Titel: 0890 - Die Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jason Dark
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aus der Tiefe. Niemand hatte damit rechnen können, und das leichte Zittern des Untergrunds war wohl nur von den wenigsten zur Kenntnis genommen worden. Die Kraft traf keine Unterschiede. Sie erwischte jeden. Ob jung oder alt, Mann, Frau oder Kind. Die Menschen taumelten und schwankten. Manche wurden einfach umgerissen, fielen gegen andere, die sie zu Boden drückten und unter sich begruben.
    Nicht nur die Besucher wurden in Mitleidenschaft gezogen. Bei den Ständen geschah das gleiche, auch sie verloren ihren Halt. Zuerst zitterten sie, dann sah es bei manchen von ihnen aus, als sollten sie in die Höhe gedrückt werden. Sie wurden aus ihren Halterungen gerissen, die Verkaufstheken, besonders die, die schräg aufgebaut waren, verloren ihre Inhalte. Was nicht angebunden war, kippte zu Boden, und die Welle wanderte weiter.
    Ein feuriger Reflex traf mein linkes Auge. Dieser Gruß hatte mich vom Wurststand erreicht. Wo wir eben noch so lecker gegessen hatten, bewegte sich der Grill wie eine mächtige Glocke, und das Gefäß mit der glühenden Holzkohle blieb auch nicht mehr auf seinem Platz. Es kippte um, die Kohlen tanzten hervor. Kleine Flammenzungen huschten zur Seite, und ich hatte dieses Feuer gesehen.
    Dann erwischte es auch uns.
    Ferry Grey fiel zuerst. Er drehte sich dabei noch zur Seite, weil er an Bill Conolly Halt finden wollte. Der hatte ebenfalls zu kämpfen. Beide wurden in die Höhe geschleudert, als eine Welle unter ihren Füßen herrollte.
    Mich traf sie einen Atemzug später. Ich hatte noch zur Seite springen wollen, es leider nicht geschafft. Unter meinen Füßen spürte ich einen hochsteigenden Trommelwirbel, der mich durchschüttelte.
    Ich verlor das Gleichgewicht. Es gab nichts, wo ich mich hätte festhalten können, aber ich war in die Knie gesackt, um den Aufprall zu dämpfen, was mir auch gelang. Nur hatte ich Pech, daß eine ältere Frau auf mich zutaumelte, mir nicht mehr ausweichen konnte und über mich stolperte.
    Sie fiel auf mich und schrie.
    Das Schreien der Menschen gellte über den Weihnachtsmarkt. Eine Frau schrie besonders laut.
    Es war die runde Madame, die mir den Glühwein verkauft hatte. Ihre Stimme hörte ich aus den anderen heraus, und ich sah, als ich den Kopf hob und die andere Frau von mir wegstemmte, daß die Kraft auch den Glühweinstand erfaßt hatte.
    Nicht ihn, den Inhalt ebenfalls, und damit auch den verdammten Kessel.
    Er war gekippt, und die Frau hatte nicht rasch genug fliehen können.
    Die heiße Brühe war aus ihm herausgeschwappt und hatte sich über das lebende Ziel ergossen. Ich hoffte für die Verkäuferin, daß sie nicht lebensgefährlich verletzt war, strampelte mich selbst wieder frei und kam auf die Beine, ohne daß mich eine fremde Kraft daran gehindert hätte.
    Der Boden war nicht mehr in Bewegung. Schon beim ersten Blick sah ich, daß der neue Ansturm eine regelrechte Schneise auf dem Weihnachtsmarkt geschlagen hatte. Es war genau zu sehen, welchen Weg diese Kraft genommen hatte. Alles war aufgerollt, die Steine des Kopfsteinpflasters waren aus ihrem Verbund gerissen worden. Die Kraft hatte zwar keine Gräben hinterlassen, aber der Weg war als solcher kaum noch zu erkennen.
    Ich kümmerte mich nicht darum, was die anderen taten. Ich wollte so schnell wie möglich helfen. Der Glühweinstand war noch nicht zusammengebrochen, aber er stand bedrohlich schief. Die Theke war bereits zusammengekracht, der heiße Wein hatte den großen Topf verlassen und war über seine Besitzerin geschwappt.
    Schrecklich.
    Die Platte, auf der das Getränk erhitzt wurde, stand noch. Ich schaltete sie ab, bevor ich mich um die Frau kümmerte, neben der auch ihre Tochter kniete.
    Der heiße Wein war nicht nur auf ihren Oberkörper geklatscht, er hatte auch ihr Gesicht getroffen und dort schwere Verbrennungen hinterlassen.
    Die starren Augen der Frau schienen vor Schmerzen nicht mehr zu leben.
    Ich kam wieder hoch und wandte mich in all dem Chaos an die Tochter, die dort wie ein Häufchen Elend hockte. Sie starrte ebenfalls ins Leere, ihre Lippen zuckten, sie dachte nicht daran, etwas zu sagen. Ihre Kehle war zu. Ich mußte die junge Frau erst aus diesem Alptraum wachrütteln.
    »Los, Sie müssen Hilfe holen! Gibt es hier einen Arzt oder jemand, der sich auskennt?«
    »Ja.«
    »Dann laufen sie.«
    Ich blieb inmitten der Trümmer. Der Geruch des Glühweins stieg mir in die Nase. Die Reste hatten auf dem Boden eine dunkle Lache hinterlassen. Das Jammern der Verletzten klang qualvoll.

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