0894 - Seelenbrand
Elisabeth zu. Ihre nackten Füße berührten den Boden, sie schwebte nicht, sie ging wie ein… ein lebendiger Mensch, und sie trug das Kleid, das sie bei ihrem Verschwinden getragen hatte. Es war sauber und roch wie eine Blumenwiese, keine Spur von fauliger Moorerde, auch nicht an der alabasterfarbenen Haut…
Elisabeth rutschte zur Wand, an der das Bett stand. Ihr Herzschlag übersprang immer wieder einen Takt, und manchmal fühlte es sich an, als wollte er für immer aussetzen.
Dann war das Ding, das behauptete, ihre Mutter zu sein, bei Elisabeth, ganz nah, und es kam noch näher, beugte sich vor, bis das Mädchen den Atem der unheimlichen Besucherin spürte. Er war süß und betörend wie Rosenduft.
Damit du mir glaubst und alles gut werden kann, habe ich dir ein Geschenk mitgebracht.
Eine Hand schwebte plötzlich vor Elisabeth' Gesicht - so schnell, dass das Mädchen der Bewegung nicht einmal im Ansatz hatte folgen können.
Eine Faust - schlanke gekrümmte Finger, die etwas umschlossen und sich jetzt öffneten…
»Was… ist… das?« Wie fallende Wassertropfen rannen die Worte aus Elisabeth' Mund. Sie wollte gar nicht mit dem… mit der Frau sprechen. Sie war nicht echt. Sie war nicht das, was sie vortäuschte. Wo sollte sie all die Monate gewesen sein? Nein, hier war etwas zutiefst Abstoßendes im Gange, etwas, das einer kleinen Kinderseele nur noch mehr Schaden, noch mehr Leid zufügen konnte.
Ich - will - das - nicht! Will, dass sie verschwindet! Aus meinem Kopf! Aus meinem Zimmer! Dad…
Er war nie da gewesen, wenn sie ihn wirklich brauchte, immer nur Mum.
Er war nie da, wenn du ihn brauchtest, aber ich!, griff die Täuscherin Elisabeths Gedanken auf. Nimm mein Geschenk, und auch das wird sich ändern. Dann wird er der Vater, den du immer wolltest…
Die Faust hatte sich jetzt geöffnet. Auf der Innenfläche der Hand lag eine Spange. Aus rohem Eisen geformt. Als Elisabeth genauer hinsah, meinte sie sogar noch den Widerschein eines Feuers zu sehen, der von dem stumpfen Metall reflektiert wurde.
»Hässlich!«, stieß sie hervor, ohne genau zu wissen, warum sie es sagte (vielleicht, weil sie bereits tief in sich ahnte, was für eine Bewandtnis es damit hatte?). »Das ist hässlich! Weg! Tu es weg!«
Die Täuscherin lachte. Ein Lachen, das die Anmut ebenso aus ihrem Gesicht wischte wie jedes mütterliche Mitgefühl oder auch nur Freundlichkeit.
Du lehnst mein Geschenk ab? Du undankbares…!
Alles, was Elisabeth seit Beginn dieser Begegnung gefürchtet hatte, bewahrheitete sich nun binnen eines Augenblicks.
Die Maske fiel.
Das… Ding zeigte sein wahres Wesen, auch wenn die groben Umrisse und Merkmale der toten Frau, die es zu sein vorgab, erhalten blieben.
Aber von einem Atemzug zum anderen wurde es zur Furie. Zum wutentbrannten Gespenst, das mit einem nervenzerfetzenden Wwwoaasch! auf die kleine Elisabeth zurückte und auch noch die letzte Distanz überwand.
Ganz nah kam das böse Gesicht und schien den Blick des Kindes bannen zu wollen. Doch Elisabeth schaffte es, nach unten zu sehen, wo…
... wo sich gerade die Hand, die das Geschenk hielt - immer noch! - schmerzhaft in ihren Brustkorb wühlte.
Es war, als würde jemand das Kind bei lebendigem Leib mit einem Büschel Brennnesseln ausstopfen. Oder Salz in eine offene Wunde reiben.
Ein schriller Schrei verließ Elisabeth' Kehle. Aber sie konnte nicht fliehen. Und auch nicht die Augen abwenden von dem, was die Geisterhand in ihrer Brust anrichtete. Sie leuchtete jetzt wieder - vielleicht war es auch die Spange, die das glutrote Licht verströmte und machte den Bereich, in den sie eingedrungen war, fast transparent. Elisabeth sah plötzlich ihre Rippen, ihre Organe… und während der Schmerz ihren Blick in Tränen ertränkte, sah sie verschwommen, wie die Finger die Spange öffneten, um Elisabeth Herz legten … und dann wieder zuschnappen ließen.
Das war das Letzte, was sie sah oder spürte, bevor die Qual endlich endete.
Und alles… gut wurde.
Das obszönfreudige Kichern, mit dem die Täuscherin sich wieder in die Mondstrahlen aufspaltete, aus denen sie erwachsen war, hörte Elisabeth nicht mehr.
Das Geschenk, das sie nicht hatte ablehnen können, war an einem Ort verwahrt, zu dem niemand - nicht einmal sie selbst - mehr Zugriff hatte.
Das teuflische Spiel, die höllische Farce, konnte beginnen.
1.
Gegenwart
»Wo zur Hölle stecken die denn alle?!«
Paul Hogarth stieg aus seinem alten Vauxhall, blieb zwischen offenem
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