09 - Denn sie betrügt man nicht
erschreckt!« rief sie heftig. »Ach, du meine Güte, du meine Güte, Rachel Winfield. Und ausgerechnet an diesem einen Tag, wo mich nichts aus der Ruhe bringen sollte. Der weibliche Zyklus reagiert so empfindlich. Hat Ihnen das noch nie jemand gesagt?«
Sahlah pflegte immer zu sagen, ihre Schwägerin sei zur Schauspielerin geboren und zu nichts erzogen. Ersteres schien wahr zu sein. Rachels Eintreten war beileibe nicht heimlich und verstohlen gewesen. Dennoch schien Yumn entschlossen, es zum Anlaß zu nehmen, sich ins Rampenlicht zu rücken. Sie richtete die Scheinwerfer auf ihren »weiblichen Zyklus«, wie sie es nannte, und umschloß mit beiden Händen ihren Bauch, damit Rachel auch ja verstand, was sie meinte. Völlig überflüssig. Wenn Yumn je von etwas anderem sprach als von ihrer Absicht, ein drittes Mal schwanger zu werden - innerhalb von drei Jahren Ehe und noch bevor ihr zweiter Sohn anderthalb Jahre alt war -, so hatte Rachel es jedenfalls noch nicht erlebt.
»Tut mir leid«, sagte Rachel. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Das will ich hoffen.« Yumn sammelte ihr Nähzeug ein. Blinzelnd begutachtete sie ihren Schal, allerdings nur mit dem rechten Auge. Das linke, dessen eigenwillige Wanderungen sie im allgemeinen im Schatten eines verhüllenden Schals verbarg, kniff sie zu. Sie schien bereit, sich ganz in ihre Arbeit zu vertiefen und Rachel bis in alle Ewigkeit zu ignorieren.
»Yumn«, sagte Rachel, sich in Erinnerung bringend, »ich wollte zu Sahlah. Ist sie da?«
Yumn zuckte die Achseln. »Sie ist doch immer da. Aber wenn ich sie rufe, ist sie plötzlich stocktaub. Sie braucht mal eine richtige Tracht Prügel, aber keiner will sie ihr geben.«
»Wo ist sie?« fragte Rachel.
»›Ach, die arme Kleine‹ denken alle«, fuhr Yumn fort. »›Man muß sie in Ruhe lassen. Sie trauert.‹ Trauern, ha! Das ist wirklich zum Lachen.«
Die Bemerkung erschreckte Rachel, aber aus Loyalität zu Sahlah verbarg sie es. »Ist sie da?« wiederholte sie geduldig. »Wo ist sie, Yumn?«
»Sie ist oben.« Als Rachel sich zum Gehen wandte, fügte Yumn mit einem boshaften kleinen Lachen hinzu: »Zweifellos niedergestreckt vom Schmerz.«
Rachel fand Sahlah im Kinderzimmer, das man Yumns zwei kleinen Söhnen im vorderen Teil des Hauses eingerichtet hatte. Sie stand am Bügelbrett und war dabei, einen Berg frischgewaschener Windeln zu präzisen Vierecken zu falten. Ihre Neffen - der eine zweieinviertel, der andere knapp anderthalb Jahre alt - lagen zusammen in einem Bettchen am offenen Fenster. Beide schliefen fest.
Rachel hatte die Freundin seit zwei Wochen nicht mehr gesehen. Beim Abschied waren unfreundliche Worte zwischen ihnen gefallen, darum fühlte sie sich jetzt trotz aller Vorbereitung auf dieses Zusammentreffen nicht recht wohl in ihrer Haut. Sie kam sich plump und linkisch vor. Schuld daran war allerdings nicht allein das Mißverständnis, das sich zwischen ihnen breitgemacht hatte, auch nicht Rachels Einsicht, daß sie bei ihrem Eintritt in das Haus der Maliks einen fremden Kulturkreis betreten hatte. Es lag vor allem daran, daß Rachel sich der äußerlichen Unterschiede zwischen sich und ihrer Freundin schmerzlich bewußt war - eine Erkenntnis, die sie bei jedem Blick auf Sahlah von neuem traf.
Sahlah war schön. Aus Achtung vor ihrer Religion und den Wünschen ihrer Eltern trug sie das züchtige shalwar-qamis. Doch weder die weiten Pluderhosen noch das lose Hemd, das ihr bis über die Hüften hing, konnten ihrer Schönheit Abbruch tun. Sie hatte muskatbraune Haut und Augen so dunkel wie Kakao, mit langen, dichten Wimpern. Das dunkle Haar trug sie in einem festen Zopf, der ihr bis zur Taille hing, und als sie bei der Nennung ihres Namens den Kopf hob, fielen ihr leicht gekräuselte, spinnwebfeine Locken um das schmale Gesicht. Einziger Makel ihrer Schönheit war ein Muttermal von Erdbeerfarbe und -form. Es saß wie eine Tätowierung hoch auf ihrem Wangenknochen und wurde merklich dunkler, als sie Rachel erblickte.
Rachel erschrak beim Anblick von Sahlahs Gesicht. Die Freundin sah krank aus, und Rachel vergaß augenblicklich alles, was sie mit soviel Bedacht vorbereitet hatte. Impulsiv streckte sie Sahlah das Geschenk hin, das sie mitgebracht hatte. »Das ist für dich«, sagte sie. »Es ist ein Geschenk, Sahlah.« Sofort kam sie sich wie eine elende Idiotin vor.
Sahlah strich mit bedächtiger Bewegung eine Windel glatt. Sie schlug den Stoff einmal um, sorgfältig darauf bedacht, daß die Ecken
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