09 - Denn sie betrügt man nicht
in den letzten zwei Monaten waren die Zeiten etwas schlechter geworden. Aber das würde sich ändern. Rachel war überzeugt davon.
Sie strampelte die Church Road hinauf, am Friedhof von St. John vorbei, wo die Blumen in der Hitze die Köpfe hängen ließen. Sie folgte der Biegung der rußgeschwärzten Bahnhofsmauer und keuchte den steilen Hang hinauf, der in die vornehmeren Viertel mit sanft gewellten Rasenflächen und grünen Alleen führte. Dieser Teil der Stadt hieß »The Avenues«, und Sahlah Malik wohnte mit ihren Eltern in der Second Avenue, fünf Minuten zu Fuß vom Greensward, der gepflegten Grünanlage, unter der zwei Reihen Strandhäuser direkt am Meeresrand standen.
Das Haus der Familie Malik gehörte zu den prächtigsten des Viertels, mit ausgedehnten Rasenflächen, einem Park und einer kleinen Birnenplantage, in deren Schatten Rachel und Sahlah die Geheimnisse ihrer Kindheit geteilt hatten. Es war ein sehr englisches Haus: mit Ziegeln gedeckt, Fachwerk, mit Rautenglasfenstern im Stil eines früheren Jahrhunderts. Die massive Haustür war mit Eisenknöpfen verziert, die vielen Türmchen und Kamine erinnerten an Hampton Court, und die allein stehende Garage - im hinteren Teil des Anwesens - ähnelte einer mittelalterlichen Festung. Nie hätte man vermutet, daß dieses Haus weniger als zehn Jahre alt war. Und wenn man sich vielleicht auch gesagt hätte, daß die Bewohner zu den wohlhabendsten Leuten in Balford gehören mußten, hätte man doch nie geahnt, daß sie aus Pakistan stammten, einem Land der Mujaheddin, Moscheen und fiqh.
Rachels Gesicht war schweißnaß, als sie endlich ihr Rad den Bürgersteig hinaufschob und das Tor aufstieß. Aufatmend trat sie in die frisch duftende Kühle unter einer Weide und blieb einen Moment stehen. Nur um zu verschnaufen, sagte sie sich, und wußte doch genau, daß sie es auch tat, um sich vorzubereiten.
Noch nie hatte sie jemanden aufgesucht, der einen Verlust der Art erlitten hatte, wie er ihrer Freundin widerfahren war. Und jetzt mußte sie genau überlegen, was sie sagen und wie sie es sagen würde, was sie tun und wie sie sich verhalten sollte. Auf keinen Fall wollte sie den Fehler machen, Sahlah vor den Kopf zu stoßen.
Sie ließ ihr Rad an einen Trog mit blühenden Geranien gelehnt stehen, nahm den hübsch verpackten Karton aus dem Korb und machte sich auf den Weg zum Haus. Krampfhaft suchte sie nach der besten Einleitung. Es tut mir so schrecklich leid ... ich bin gekommen, so schnell ich konnte ... ich wollte nicht anrufen, das kam mir so unpersönlich vor ... das ändert alles auf eine furchtbare Weise ... ich weiß, wie sehr du ihn geliebt hast ...
Aber das war eine Lüge. Sahlah Malik hatte ihren zukünftigen Mann überhaupt nicht geliebt.
Ach was, das spielte jetzt keine Rolle. Die Toten konnten nicht zurückkehren und von den Lebenden Rechenschaft fordern, und es hatte wenig Sinn, darüber nachzudenken, wie wenig ihre Freundin für einen Mann empfunden hatte, den man ihr aus einer Schar Wildfremder zum Ehemann bestimmt hatte. Nun würde er ja nicht mehr ihr Ehemann werden. Was einen beinahe auf den Gedanken bringen könnte ... Aber nein. Rachel verbot sich alle Mutmaßungen. Mit ihrem Paket unter dem Arm klopfte sie an die Tür.
Sie öffnete sich von selbst unter ihrer Hand, und aus dem Wohnzimmer schallten ihr die unverwechselbaren Klänge untermalender Filmmusik sowie mehrere Stimmen entgegen, die ein Gespräch in einer fremden Sprache führten. Urdu, vermutete sie. Der Film war gewiß wieder ein Katalogkauf von Sahlahs Schwägerin, die wahrscheinlich auf einem Kissen vor dem Videogerät hockte, wie üblich eine Schüssel Seifenwasser im Schoß, in der sie Dutzende ihrer goldenen Armbänder zur gründlichen Reinigung eingeweicht hatte.
Rachel lag gar nicht weit daneben mit ihrer Vermutung. Sie rief: »Hallo? Sahlah?« und trat ins Wohnzimmer. Dort fand sie wie erwartet Yumn vor, die junge Frau von Sahlahs Bruder, allerdings nicht mit der Reinigung ihres Schmucks beschäftigt, sondern bei Ausbesserungsarbeiten an einem ihrer vielen dupatta. Sie stichelte eifrig am Saum des Schals, brachte aber, ungeschickt, wie sie war, nichts Rechtes zustande.
Sie stieß einen kleinen Schrei aus, als Rachel sich räusperte, warf die Hände in die Höhe und ließ Nadel, Faden und Schal einfach fallen. Die Fingerhüte, die sie aus unerfindlichen Gründen an sämtlichen Fingern ihrer linken Hand trug, flogen in alle Richtungen.
»Mein Gott, haben Sie mich
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