09 - Denn sie betrügt man nicht
Sahlah, den Blick auf ihren Neffen gerichtet, »Haytham ist tot, aber das entbindet mich nicht von meinen Pflichten der Familie gegenüber. Wenn mein Vater morgen einen anderen Mann für mich auswählt, werde ich ihn heiraten. Ich muß es.«
»Du mußt? Das ist ja verrückt. Du hast ihn nicht mal gekannt. Und den nächsten wirst du auch nicht kennen. Was -«
»Nein. Ich möchte es.«
Ihre Stimme war ruhig, doch die Entschiedenheit ihres Tons war nicht zu überhören. Die Vergangenheit ist tot, sagte sie, ohne es auszusprechen. Aber sie hatte eins vergessen. Auch Haytham Querashi war tot.
Rachel trat zum Bügelbrett und faltete den Mantel fertig zusammen. Sie tat es mit der gleichen Sorgfalt, die Sahlah zuvor auf die Windeln verwendet hatte. Sie schlug den Mantel in der Mitte um und achtete darauf, daß der Saum genau in einer Linie mit den Schultern war. Sie faltete die Seiten zu schmalen Keilen, die sie einklappte. Sahlah, die immer noch am Bett der Kinder stand, sah ihr zu.
Als Rachel den Mantel wieder in den Karton gelegt und den Deckel geschlossen hatte, sagte sie: »Wir haben doch immer davon gesprochen, wie es mal werden würde.«
»Damals waren wir klein. Träume zu haben ist leicht, wenn man ein Kind ist.«
»Du hast gedacht, ich würde sie vergessen.«
»Ich habe gedacht, du würdest ihnen entwachsen.«
Die Bemerkung schmerzte, viel stärker, als Sahlah wahrscheinlich beabsichtigt hatte. Sie zeigte, in welchem Maß sie sich verändert hatte, in welchem Maß ihre Lebensverhältnisse sie verändert hatten. Und sie zeigte auch, daß sich Rachel überhaupt nicht verändert hatte. »Wie du ihnen entwachsen bist?« fragte sie.
Sahlahs Blick wurde unsicher unter dem Rachels. Sie legte eine Hand auf das Geländer des Kinderbetts und umfaßte es fest. »Bitte glaub mir, Rachel. Ich muß so handeln.«
Sie schien mehr sagen zu wollen, aber Rachel ging die Fähigkeit ab, indirekte Schlüsse zu ziehen. Sie versuchte, Sahlahs Gesicht zu entnehmen, welche Gefühle und welche Bedeutung ihre Worte in sich bargen. Aber sie konnte sie nicht erfassen. »Warum?« fragte sie deshalb. »Weil es deine Art ist? Weil dein Vater es verlangt? Weil du aus der Familie ausgestoßen wirst, wenn du nicht tust, was dir gesagt wird?«
»Das alles trifft zu.«
»Aber es steckt noch mehr dahinter, stimmt's?« Rachel sprach hastig weiter. »Es macht nichts, wenn deine Familie dich verstößt. Ich sorge für dich, Sahlah. Ich bin immer für dich da. Ich lasse nicht zu, daß dir etwas Schlimmes geschieht.«
Sahlah lachte leise und ironisch. Sie wandte sich dem Fenster zu und sah in die gleißende Nachmittagssonne hinaus, die erbarmungslos auf den Garten herunterbrannte, den Boden austrocknete, den Rasen entwässerte, den Blumen das Leben raubte. »Das Schlimme ist schon geschehen«, sagte sie. »Was hast du getan, um es zu verhindern?«
Bei der Frage wurde Rachel so kalt, als hätte ein eisiger Luftzug sie getroffen. Sie ließ vermuten, daß Sahlah erfahren hatte, wie weit Rachel sich hatte hinreißen lassen, um sich ihre Freundschaft zu bewahren. Ihr sank der Mut. Aber sie konnte das Haus nicht verlassen, ohne die Wahrheit zu erfahren. Sie wollte sich ihr nicht stellen, weil sie sich, wenn die Wahrheit so war, wie sie glaubte, dann auch der Erkenntnis würde stellen müssen, daß sie selbst das Ende ihrer Freundschaft verschuldet hatte. Aber sie sah keinen Ausweg. Sie hatte sich aufgedrängt, wo sie nicht erwünscht war. Jetzt würde sie erfahren, wie hoch der Preis dafür war.
»Sahlah«, sagte sie, »hat Haytham ...« Sie zögerte. Wie die Frage stellen, ohne zu bekennen, wie weit ihr häßlicher Verrat an der Freundin gegangen war?
»Was?« fragte Sahlah. »Hat Haytham was?«
»Hat er irgendwann einmal mit dir über mich gesprochen?«
Sahlah schien so verdutzt über die Frage, daß es Rachel als Antwort genügte. Die Erleichterung, die sie empfand, war so köstlich, daß sie ihre Süße auf der Zunge schmeckte. Haytham Querashi war gestorben, ohne etwas zu sagen. Im Moment zumindest war Rachel Winfield sicher.
Vom Fenster aus blickte Sahlah ihrer Freundin nach, als sie davonradelte. Sie fuhr in Richtung Greensward. Sie wollte an der Küste entlang heimkehren. Der Weg würde sie direkt an den Clifftop Snuggeries vorbeiführen, dem Hort ihrer Träume trotz allem, was Sahlah gesagt und getan hatte, um zu demonstrieren, daß ihre Wege sich getrennt hatten.
Im Herzen war Rachel immer noch das kleine Mädchen von damals, als sie
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