09 - Denn sie betrügt man nicht
äußern.
Und Barbara wußte nicht, was sie tun sollte, nicht zuletzt deswegen, weil sie nicht genau wußte, was eigentlich passiert war. Dort draußen auf dem Meer waren Grenzen überschritten worden - nicht nur von Emily Barlow.
Chief Inspector Barlows Engstirnigkeit und Bigotterie hätten beinah ein unschuldiges kleines Mädchen das Leben gekostet. Barbaras Reaktion darauf hatte nicht nur die Rangfolge verletzt, sie hatte auch die polizeilichen Ermittlungen behindert und sie um die Festnahme eines Verbrechers gebracht. Sie wußte, daß die Achtung vor den ethischen Grundsätzen ihres Berufs es von ihr verlangte offenzulegen, was sie von Anfang an bei Emily gesehen hatte - ohne es sehen zu wollen: rassistische Vorurteile. Doch einer Aussage von ihr würde Emily ohne Zweifel mit einer ganzen Liste weit schwerwiegenderer Beschuldigungen begegnen, die mit Insubordination begann und mit Mordversuch endete. Man erhob nicht einfach eine geladene Waffe gegen seine Vorgesetzte, drückte ab und hoffte dann, daß dieser vorübergehende Ausraster irgendwie übersehen werden würde.
Als Emily zum Team zurückkehrte, verriet ihr Gesicht nichts über ihre Absichten. Sie war wie immer: energisch und direkt. Genau wie Barbara war sie schmutzig von der Verfolgungsjagd übers Meer, ihr sonst punkig nach oben stehendes Haar lag ihr platt am Kopf, und ihre Wimperntusche war verschmiert. Sie betrat das Zimmer voll tatkräftiger Entschlossenheit, und die Art, wie sie ihrem Team Anweisungen gab, zeigte Barbara, daß sie in Gedanken bei der Arbeit war und nicht bei Vergeltungsmaßnahmen.
Interpol mußte eingeschaltet werden. Die Kripo Balford würde den Kontakt über die Londoner Metropolitan Police herstellen. Ihr Ersuchen war elementar genug. Ermittlungen des deutschen BKA waren nicht erforderlich. Erforderlich war lediglich eine simple Festnahme - soweit etwas überhaupt simpel sein konnte, wenn mehr als ein Land betroffen war.
Aber Interpol würde Berichte verlangen, um sie nach Deutschland weitergeben zu können. Und Emily wies mehrere ihrer Leute an, mit der Zusammenstellung dieser Berichte zu beginnen. Andere erhielten Befehl, sich um die Auslieferungsformalitäten zu kümmern. Wieder andere sollten Material für den Pressesprecher zusammentragen. Und schließlich sollte noch eine Gruppe sämtliche Unterlagen - Aktivitätsberichte, Aussageprotokolle, Laborbefunde - sammeln, die der Staatsanwaltschaft übergeben werden sollten, sobald Muhannad Malik gefaßt war. An diesem Punkt erschien Belinda Warner mit einem weiteren Servierwagen mit Kaffee und teilte Emily mit, daß Mr. Azhar sie und Sergeant Havers zu sprechen wünsche.
Fast direkt nachdem er seine Tochter wieder in die Arme geschlossen hatte, war Azhar mit ihr verschwunden. Er hatte sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Menge auf dem Ponton gebahnt, hatte keine der Fragen beantwortet, die die Reporter ihm zuriefen, und mit stoischer Miene in die Kameras der Fotografen geblickt, die die Bilder für die Morgenzeitung schossen. Er hatte Hadiyyah zu seinem Wagen getragen und war davongefahren. Das Porzellan, das sein Vetter Muhannad zerschlagen hatte, überließ er der Polizei.
Emily sagte: »Führen Sie ihn in mein Büro« und gönnte Barbara endlich einen Blick. »Sergeant Havers und ich erwarten ihn dort.«
Sergeant Havers und ich. Die Worte klangen süß. Barbara wurde ganz schwach vor Erleichterung. Es würde keine Abrechnung geben. Was auf See geschehen war, war vergessen. Sei gepriesen, Emily Barlow, dachte sie und war sich sicher, daß auch Emily aus der Erfahrung genug gelernt hatte, um es für Barbara unnötig zu machen, die andere nun ihrerseits bei ihren Vorgesetzten zu melden.
»Wie geht es ihr?« fragte Barbara sofort, als Azhar Emilys Büro betrat.
»Es geht ihr gut«, antwortete er. »Mr. Treves ließ ihr freundlicherweise einen Teller Bouillon bringen. Sie hat gegessen und gebadet, und ich habe sie ins Bett gebracht. Sie ist auch schon von einem Arzt untersucht worden. Jetzt ist Mrs. Porter bei ihr, bis ich zurückkomme.« Er lächelte. »Sie hat die Giraffe mit im Bett, Barbara. Die lädierte. ›Das arme Ding‹, sagte sie, ›es ist doch nicht seine Schuld, daß es ganz bekleckert ist. Es weiß gar nicht, daß es schlimm beieinander ist.‹«
»Wer weiß das schon von sich?« meinte Barbara.
Azhar sah sie einen Moment schweigend an, dann nickte er bedächtig, ehe er sich Emily zuwandte. »Inspector, ich weiß nicht, was Barbara Ihnen über
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