09-Die Pfade des Schicksals
konzentrieren zu können.
Er hing schlaff in Steinmangolds Armen. Aus einem Mundwinkel pulsierte noch ein Blutfaden: ein schwindendes Rinnsaal. Beim Aufprall auf das von Jeremiah geschaffene Gebilde konnte er sich das Rückgrat gebrochen haben. Bestimmt hatte er Rippenbrüche, ein perforiertes Zwerchfell und vielleicht auch eine Lungenverletzung. Und sein Kopf war heftig an die Wand geknallt. Linden stellte sich eine Gehirnblutung, ein Ödem und verschiedene Traumata vor. Gehirnschaden. Koma.
»Liand.« Pahni murmelte seinen Namen immer wieder; beschwor ihn, am Leben zu bleiben. »Liand.«
Steinmangold erbot sich, ihn abzusetzen, aber Linden schüttelte den Kopf. Kam er mit irgendwelchen Überresten von Skest in Berührung …
Ich wollte, ich könnte dich verschonen.
Der Eifrige musste als Blitzableiter für ihren Zorn auf sich selbst herhalten. »Gib ihm den Sonnenstein! Er gehört nicht dir.«
»Du sprichst wahr«, murmelte der feiste Insequente, »er gehört nicht mir.« Das klang beschämt, fast reumütig. »Ich gebe ihn sehr gern zurück.«
Bunte Bänder seines Gewandes schlängelten sich zu Liand hinüber. Geschickt wie Finger praktizierten sie den Sonnenstein wieder in seine Gürteltasche.
Dann zogen die Bänder sich zurück, und Linden verbannte den Eifrigen aus ihren Gedanken. Als sie ihren verletzten Freund studierte, fühlte sie sich besiegt, ehe sie überhaupt begonnen hatte. Er war zu schwer verletzt - und sie völlig ausgepumpt. Selbst der Stab konnte die leeren Reservoire ihres Gehirns nicht gleich auffüllen.
Linden musste weinen. Tat sie das nicht, würde sie vor Zorn wahnsinnig werden. Ihr ehemals steinernes Herz war in Andelain gebrochen, als sie die Folgen von Covenants Wiedererweckung gesehen und begriffen hatte. Das feurige Amalgam aus Extravaganz und Zurückhaltung, das sie aus der Vergangenheit des Landes zu ihrer Begegnung mit den Toten getragen hatte, war zu etwas geworden, das unsteuerbar und verantwortungslos war. Beherrschte es sie jetzt erneut, würde sie in der Tat ohne Rücksicht auf Konsequenzen von Zorn getrieben sein.
Aber sie sie hatte lange genug in Notaufnahmen gearbeitet, und ihre Ausbildung saß tief. Sie konnte sich nicht weigern, den Patienten vor ihr zu behandeln. Selbst wenn Liand nicht ihr erster Freund gewesen wäre …
»Wieso gerade er?« Ihre Stimme bebte vor Wut. »Ich war hier. Der Egger war hier. Covenant und Stave waren schon unterwegs. Aber das Ungeheuer hat uns ignoriert. Es hat nur Liand verletzt.«
Niemand antwortete ihr, und Linden erwartete auch keine Antwort. Trotzdem hatte sie diese Frage stellen müssen. Sie konnte ihr vielleicht helfen, ihre professionelle Distanziertheit teilweise zurückzugewinnen - die Fähigkeit, Verletzungen als zu lösende Probleme anzusehen, statt sie als Anklagepunkte zu betrachten.
Für den Angriff auf Liand musste es einen Grund geben. Der Croyel hatte zweifellos gesehen, dass sie machtlos war. Und er hatte bewiesen, dass er dem Egger gewachsen war. Aber trotzdem … Liand war nur Liand. Und sein Orkrest war nur ein Sonnenstein, im Vergleich zu Weißgold und dem Stab des Gesetzes ganz unbedeutend. Wieso hatte die Bestie sich die Mühe gemacht, Liand auszuschalten, obwohl der Egger ihr mit solcher Macht in den Händen gegenübergestanden hatte?
Warum hatte sie den Steinhausener gefürchtet?
Liand hatte wieder und wieder bewiesen, dass er mit dem Orkrest die Auswirkungen von Kevins Schmutz bekämpfen konnte. Der Sonnenstein besaß gewisse Macht gegen Unrichtigkeit: ein Potenzial für spirituelle Wiederherstellung, das Linden nicht abschätzen oder definieren konnte.
Covenant hatte recht. Wollte der Croyel Liands Tod, musste Linden ihn dringend retten. Er würde gebraucht werden. Irgendwie.
Auch wenn diese Überlegung vielleicht nicht distanziert oder klar genug war, genügte sie trotzdem. Willst du den Rest deines Lebens so vergeuden Nein, das wollte Linden nicht.
Sie entlockte ihrem Stab erneut Feuer und reinigte damit die Luft von ätzenden Säuredämpfen und dem Geruch von verbranntem Fleisch. Dann trat sie näher an Steinmangold heran und hüllte Liand in heilende Flammen. Behutsam, aber auch ängstlich drang sie mit ihren Sinnen in ihn ein und versuchte, Art und Ausmaß seiner Verletzungen zu diagnostizieren.
»Wahnsinn«, wiederholte Esmer. Sein Ärger klang wie fernes Donnergrollen. »Jede Verzögerung beschleunigt deinen Tod, und trotzdem lässt du dir Zeit, als könnte kein Bann oder Verrat dir etwas
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