09-Die Pfade des Schicksals
werden darf, nicht von ihrem Beutezug abhalten.«
Ohne erkennbaren Grund fügte er hinzu: »Die Urbösen und Wegwahrer haben weiter den Wunsch, dir zu dienen. Sie sind in vielen Dingen geschickt.«
»Linden Riesenfreundin!«, knurrte die Eisenhand. »Ich will dich nicht beeinflussen. Aber du musst dich rasch entscheiden! Das Übel kommt näher!«
Für wenige Augenblicke - nur einen Herzschlag lang - war Linden durch die möglichen Folgen von Esmers Appell wie gelähmt.
Sie konnte Covenant in die Gegenwart zurückholen. Sie konnte wieder wilde Magie anwenden. Die dem Eifrigen verliehenen Fähigkeiten würden zurückkehren. Dann schlug ihr Herz wieder, echote den Lebenspuls von Dutzenden oder Hunderten gequälter Frauen, und sie erkannte, dass sie in Wirklichkeit gar keine Wahl hatte. Alle ihre Optionen waren unerträglich.
Esmer eiskalt ermorden. Jeremiah wieder verlieren. Oder ein unbeschreibliches Massaker zulassen.
Die Dämondim-Abkömmlinge drängten sie weiter in Richtung Steinbrücke.
»Lauft!«, forderte sie Raureif Kaltgischt auf. »Covenant als Erster! Dann Jeremiah! Seht zu, dass möglichst viele von uns rüberkommen! Ich komme zuletzt. Ich bin dem Ungeheuer nicht gewachsen, aber vielleicht kann ich es ablenken.«
Kaltgischt warf sich sofort herum und scheuchte Gutwind, die Covenant trug, mit einer Handbewegung in Richtung Brücke. Während Gutwind und die Gedemütigten vorausspurteten, wies Kaltgischt Steinmangold und Böen-Ende an, ihr einzeln zu folgen. Nach ihnen würden Rahnock, Grobfaust und Spätgeborene kommen.
Wild durcheinanderkläffend rannten auch die restlichen Urbösen los. Einige Sekunden später waren nur noch Stave und Esmer bei Graubrand und Kaltgischt; Linden, Jeremiah und dem Croyel.
»Kaltgischt …!«, protestierte Linden.
»Nein, Riesenfreundin.« Der Blick der Riesin war kämpferisch, ihr Lächeln grimmig. »Du hast deine Wahl getroffen. Das tue jetzt auch ich. Solange der Meer-Sohn bei dir ausharrt, werde ich tun, was ich in deinem Interesse für richtig halte.
Vielleicht«, fügte sie rasch hinzu, »ist dein Sohn an deiner Seite sicherer als anderswo.«
Linden glaubte zu verstehen. Griff die Riesin Esmer an, während sie selbst, Jeremiah und der Croyel auf der Brücke exponiert waren. Und mit dem Stab konnte sie die Magien des Ungeheuers vielleicht lange genug eindämmen, bis Kaltgischt es wieder unter Kontrolle bringen konnte.
Eine geringe Chance. Besser als gar keine.
»Los!«, keuchte Linden wieder gegen Brechreiz ankämpfend. »Sofort. Ich tue, was ich kann.«
Kaltgischt nickte, dann lief sie zu dem Wagnis.
Graubrand und Stave folgten ihr dichtauf. Esmer blieb in Lindens Nähe.
Sie hatte vergessen, wie schmal die Brücke wirkte … und wie zerbrechlich. Verdrängt hatte sie auch die gewaltige, bedrohliche Masse der Stalaktiten. Als Graubrand sie auf die Brücke trug, schien die Tiefe sich wie eine Kluft aus ihren schlimmsten Albträumen zu öffnen. Und das Übel; Gott, das Übel! Gepeinigte Fratzen reckten sich in verrücktem Wechsel nach oben und bemühten sich, frisches Leben zu verschlingen.
Sie, die nicht genannt werden darf, kam nicht rasch herauf, aber ihr Aufsteigen war so unaufhaltsam wie die Kräfte, die den Melenkurion Himmelswehr gebildet hatten.
Mit dem Stab, dessen Licht ihr unbedeutend erschien, in den Händen erreichte Linden eine ganz neuartige Dimension des Fühlens und der Wahrnehmung: eine Dimension konzentrierter, unverfälschter Angst.
Nun verstand sie, weshalb ihre Eltern den Tod vorgezogen hatten. Jedes andere Ende wäre besser als ein Sturz in diese unergründliche Tiefe; in diese korrupte Entstellung von Lust und Liebe.
Irgendwo kreischte der Eifrige, sie sollten sich beeilen. Von der fächerartigen Obsidianplatte am einzigen Höhlenausgang riefen Riesinnen ermunternde Worte. Linden, die ihren ganzen Mut zusammennahm, versuchte abzuzählen, wie viele ihrer Gefährten schon in Sicherheit waren; aber das schaffte sie nicht. Das Kläffen der Urbösen und Wegwahrer klang in ihren Ohren verzweifelt.
Auf dem Scheitelpunkt der Brücke verständigten Kaltgischt und Graubrand sich durch irgendein Zeichen. Sie waren keine Haruchai; sie konnten sich nicht durch Telepathie verständigen.
Trotzdem waren sie als Kriegerinnen seit Jahrhunderten aufeinander eingespielt. Sie bewegten sich, als besäßen sie einen gemeinsamen Verstand.
Kaltgischt warf sich plötzlich herum. Im selben Augenblick machte Graubrand abrupt halt, sprang einen Schritt
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