09-Die Pfade des Schicksals
Nacht war mondlos. Außer dem unpersönlich kalten Glitzern der Sterne war die einzige Lichtquelle das geisterhafte Leuchten von Hoch-Lord Loriks Krill. Sein Schmuckstein schickte silberne Lichtstrahlen an Jeremiah und dem Croyel vorbei, als wäre Linden in der körperlosen Welt der Toten erwacht.
Von seinem Platz am Rand der sandigen Fläche aus beobachtete Covenant sie mit Silberglanz wie das Aufblitzen wilder Magie in seinen Augen. Ob auch er geschlafen hatte, konnte Linden nicht beurteilen. Sicher wusste sie nur, dass er sich jetzt hellwach auf sie konzentrierte, als verkörperte sie zukünftige Entwicklungen, die ohne sie niemals Wirklichkeit werden konnten.
Überall in dem kleinen Canyon waren Riesinnen wie Anele in erschöpften Schlaf gesunken. Liand und Pahni schienen sich etwas von der Gruppe abgesetzt zu haben, um ungestört allein sein zu können. Bhapa hatte sich aus seinen Ängsten und Zweifeln in tiefen Schlaf geflüchtet. Die Eisenhand, Frostherz Graubrand und Onyx Steinmangold blieben jedoch wachsam, auch wenn sie an Felsblöcke gelehnt entspannt ruhten. Vor dem Nachthimmel kaum sichtbar hielten Clyme und Branl auf ihren Hügelkämmen Wache. Und Mahrtür ging weiter auf und ab, als könnte er seine Frustration dadurch in erträgliche Portionen aufteilen. Um die Schlafenden nicht zu stören, war er ans Bachufer gegangen, an dem er jetzt auf und ab marschierte.
Mit dem Stab des Gesetzes in einer Hand stand Linden so leise wie möglich auf. Während sie sich Sand von den Jeans klopfte, überzeugte sie sich davon, dass Jeremiahs Rennauto noch in ihrer Tasche steckte; dass Covenants Ring weiter an seiner Kette um ihren Hals hing. Nun war es Zeit - auch wenn sie nicht wirklich bereit war. Vielleicht würde sie das nie sein. Trotzdem stand ihr Entschluss fest.
Jetzt oder nie.
Wie oft hatte sie das schon zu sich selbst gesagt?
Aber als sie sich Galt und Jeremiah zuwandte, sprach Covenant sie an. Sein heiseres Flüstern klang, als fräße eine Säge sich durch verrottetes Holz. »Linden, hör mir zu«, verlangte er.
Sie wandte sich ihm zu. Nach kurzem Zögern ging sie zu ihm hinüber, damit er nicht die Stimme zu erheben brauchte.
»Was gibt es«, fragte sie halblaut. War ihm etwas eingefallen? Irgendetwas, das ihr bei Jeremiahs Befreiung helfen konnte?
»Ich möchte, dass du etwas weißt«, antwortete er. »Was du auch tun musst… ich stehe hinter dir. Vor allem glaube ich, dass du das Richtige tust. Das hast du selbst gesagt. Das Wichtigste zuerst. Alles andere kann warten.« Mit einem Anflug von grimmigem Humor fügte er hinzu›: »Schließlich besteht keine Gefahr, dass unsere übrigen Probleme sich von selbst lösen.
Aber…« Seine Stimme stockte. Als er weitersprach, schien er sich zum Sprechen zu zwingen. »Wilde Magie ist wie ein Leuchtfeuer. Vor allem jetzt. Beschließt du, sie jetzt anzuwenden - und denk daran, dass ich auf deiner Seite stehe -, wissen viele unserer Feinde plötzlich, wo wir sind. Sie werden es spüren. Selbst wenn sie keine Elohim sind.«
Er breitete unbeholfen die Hände aus, als wollte er ihr zeigen, dass sie leer waren. »Bitte glaub mir, Linden, dass ich dir keine Ratschläge erteile. Ich versuche nicht, dir vorzuschreiben, was du tun oder lassen sollst. Nimm dich nur gut in Acht. Hier gibt es mehr als nur eine Art Gefahr. Zäsuren sind nicht die einzige Gefahr, mit der man rechnen muss, wenn man Weißgold gebraucht.«
Linden nahm die Anspannung in seiner Stimme wahr; aber sie hörte nicht richtig zu. Sobald ihr klar wurde, dass er außer einer Warnung nichts zu bieten hatte, ließ ihre Aufmerksamkeit schlagartig nach. Sie durfte nicht noch ängstlicher sein. Nicht jetzt. Nicht wenn ihre erste und wichtigste Verpflichtung die Rettung Jeremiahs war.
Warnungen hatte sie schon genügend gehört.
Als antwortete sie auf Covenants Appell, sagte sie: »Kastenessen weiß also, wo Joan ist.«
»Das ist hier nicht …!«, begann Covenant plötzlich aufgebracht. Aber dann beherrschte er sich. In milderem Tonfall sagte er: »Natürlich weiß er das. Höllenfeuer, Linden, ich glaube schon fast, dass ich es weiß. Oder dass ich es wissen würde, wenn ich mich nur daran erinnern könnte. Oder dass ich es erraten können müsste.
Damit will ich eigentlich nur sagen, dass ich hinter dir stehe.« Vermutlich meinte er: Was auch passiert. »Ich habe Vertrauen zu dir.«
Seine Antwort fiel wie ein Funke in den Zunder ihrer Gefühle. Bevor sie sich beherrschen konnte, flüsterte
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