09-Die Pfade des Schicksals
dazu angestiftet. Sie hatte die Schlange geweckt…
Aber Stave war noch nicht fertig. »Andererseits hast du den Zweifler in unsere Mitte gebracht«, fuhr er steif fort. »Den Ur-Lord Thomas Covenant. Für alle Haruchai, auch die Meister, ist er die wahre Halbhand, der Übel-Ender, der Lebensspender. An Hoch-Lord Berek Halbhand haben wir keine eigenen Erinnerungen; wir kennen ihn nur aus Sagen. Aber bei Thomas Covenant, dem Zweifler, sieht die Geschichte ganz anders aus.
Er hat den Gedemütigten ausdrücklich verboten, sich gegen dich zu stellen. Er hat sie sogar aufgefordert, dir treu zu sein. Und seine Taten in deinem Namen - seine ganze Art dir gegenüber - bestätigen seine Wünsche.
So sind die Gedemütigten in eine widersprüchliche Lage geraten, aus der sie keinen Ausweg wissen. Sie verabscheuen dein Tun, in dem sie eine Entweihung, eine Schändung sehen. Andererseits steht vor ihnen der Zweifler, um dessentwillen sie verstümmelt worden sind, damit sie ihm ähnlich sehen. Durch seine bloße Gegenwart widerlegt er ihre Auffassung von dem, was als Schändung zu gelten hat.
Nun müssen sie ihm den Gehorsam verweigern und deswegen Kummer leiden - oder dich akzeptieren und sich beschämen lassen. Beide Möglichkeiten sind unerträglich. Trotzdem müssen sie als Haruchai eine Wahl treffen. Aber das können sie nicht… und müssen es tun … und können es nicht… und müssen es tun.«
Staves zorniger Unterton verschwand, und er fügte beinahe sanft hinzu: »Allein aus diesem Grund verzichten sie darauf, sich gegen dich zu stellen, Linden. Stattdessen dienen sie weiter dem Zweifler. Er ist der Ur-Lord, die Halbhand. Sie vertrauen darauf, dass er diesen Widerspruch wird auflösen können.«
Seine Feststellung klang wie ein Versprechen, das Hoffnung hätte machen sollen. Aber sie konnte Linden nicht trösten. Sie gehörte nicht zu den wahren Helden des Landes. Ihre Liebe war zu klein, zu spezifisch, zu menschlich. Und sie trug eine zu schwere Last aus Zorn und Finsternis, um Hoffnung schöpfen zu können. Covenant hatte ihre Liebe zurückgewiesen. Wie konnte sie da auf irgendeine Hoffnung bauen, die auf seiner Unterstützung basierte?
So ruhig wie möglich fragte Linden: »Wie hast du das geschafft, Stave? Wie bist du so anders geworden?« In Schwelgenstein hatte er ihr diese Frage beantwortet. Trotzdem musste Linden sie erneut stellen. »Du siehst Dinge, die die anderen Meister nicht sehen. Und bist mitfühlender.« Vorhin hatte er sie erstmals mit ihrem Vornamen angesprochen. »Wie ist das passiert?«
Stave zögerte keinen Augenblick. Als hätte er sich mit der Wahrheit längst arrangiert, antwortete er: »Die Ranyhyn haben über meinen Stolz und meine Beschämung gelacht. Und die Freundlichkeit ihres Lachens hat mir die Angst vor Trauer genommen. Durch das Bad in den geheimnisvollen Wassern ihres Sees, das mich mit ihnen und mit dir vereint hat, bin ich zu mir selbst erweckt worden.«
Sekunden später merkte Linden zu ihrer Erleichterung, dass ihre Augen voller Tränen standen. Sie flössen wie der Bach und schienen ihr ebenso Trost zu gewähren. Zumindest konnte sie jetzt wieder weinen.
Vielleicht war ihre abgrundtiefe Verzweiflung doch weniger tief, als sie befürchtet hatte.
Später kehrte sie auf den sandigen Uferstreifen zurück, auf dem Covenant mit Liand, Pahni und Bhapa saß. Während Mahrtür auf und ab ging und Anele schnarchte, stand Galt mit Jeremiah und dem Croyel wie eine Statue aus der Halle der Geschenke da: eine eng geschlossene Gruppe, deren Zweck im ersten schwachen Sternenschein nicht klar ersichtlich war. Weiter stromaufwärts setzten die Schwertmainnir ihr Riesen-Palaver fort - absichtlich leise sprechend, um ihre Gefährten nicht zu stören.
Linden, der bewusst war, dass sie dringend Ruhe brauchte, streckte sich im Sand aus und legte einen angewinkelten Arm wie ein Kissen unter ihren Kopf. Aber dann wollte sie doch lieber nicht schlafen. Sie hatte Angst vor ihren Träumen. Stattdessen, nahm sie sich vor, würde sie sich nur entspannen und nachdenken und planen, bis sie bereit war, die Herausforderungen anzunehmen, vor die Jeremiahs Notlage sie stellte.
Aber der Sand schien sich ihren Konturen anzupassen, gab unter ihrem Gewicht so bequem nach wie ein gutes Bett. Zwischen zwei Gedanken versank sie wie ein Stein in einem beruhigenden Strom aus Schlaf.
Als sie aufwachte, wusste sie sofort, dass es nach Mitternacht war. Der Tag würde erst in einigen Stunden anbrechen. Und die
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