09 - Old Surehand III
reden, o nein. Schaut in alle Erdteile, mögen sie heißen, wie sie wollen! Wird da nicht überall und allerwärts grad von den Zivilisiertesten der Zivilisierten ein fortgesetzter Raub, ein gewalttätiger Länderdiebstahl ausgeführt, durch welchen Reiche gestürzt, Nationen vernichtet und Millionen und Abermillionen von Menschen um ihre angestammten Rechte betrogen werden? Wenn Ihr ein guter Mensch seid, und der wollt Ihr doch gewiß wohl sein, so dürft Ihr Euer Urteil nicht nach der Ansicht der Eroberer richten, sondern nach den Meinungen und Gefühlen der Besiegten, der Unterdrückten, Unterjochten. Und wenn Ihr mir da entgegnet, daß es Eroberer und Gründer von neuen Reichen gegeben habe, so lange die Erde Menschen trägt, so antworte ich: Das waren Mazedonier, Griechen, Römer, Perser, Mongolen, Hunnen, also Heiden, die keinen Christus kannten, welcher als zweites, höchstes Gebot von uns verlangt: ‚Du sollst deinen Nebenmenschen lieben wie dich selbst!‘ Haben diese Heiden ihre blutigen Schwerter als mordgierige Menschenschnitter über den Erdkreis getragen, so gibt es für uns Christen eine ganz andere Art der Eroberung. ‚Ich bringe Euch den Frieden; ich lasse Euch meinen Frieden!‘ hat der Weltheiland gesagt; nun tragt als Christen diesen Frieden hin in alle Lande und hin zu allen Völkern! Steckt, wie Petrus, Eure Schwerter in die Scheide; Eure einzige Waffe soll nur die Liebe sein, und auf Eurem Banner darf man nur das Wort Versöhnung lesen. Wie es einen Menschen gab, welcher die erste Mordwaffe erfand, so wird es dereinst, so wahr ein Himmel über uns ist, auch einen Menschen geben, der die letzte Waffe zwischen seinen Fäusten zerbricht. Wie lange aber soll es währen, bis dies geschieht? Den Befehl dazu hat Christus schon vor nun fast zweitausend Jahren gegeben; sollen noch Jahrtausende verstreichen, ehe er in Erfüllung geht? Ich wiederhole es noch einmal: Sprecht mir ja nicht von Eurer Zivilisation und von Eurem Christentum, solange noch ein Tropfen Menschenblut durch Stahl und Eisen, durch Pulver und Blei vergossen wird!“
Der wackere Farmer lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schwieg. Niemand wagte es, auch nur eine Silbe der Entgegnung vorzubringen. Der erste, welcher die eingetretene Stille unterbrach, war mein sonst so zurückhaltender Winnetou. Er griff nach der Hand Harbours, um sie herzlich zu drücken, und sagte:
„Mein weißer Bruder hat genau die Worte gesprochen, welche in meiner Seele zu lesen sind. Seine Rede war wie die Rede eines wahren Priesters der Christen. Aus welcher Quelle hat er die Gedanken geschöpft, welche leider die Gedanken nur weniger Bleichgesichter sind? Ich bitte ihn, mir dies zu sagen!“
„Dieser Quell entsprang dem Herzen nicht eines weißen, sondern eines roten Mannes, welcher allerdings ein Priester und Verkündiger des wahren Christentums war. Von allen weißen Lehrern und Rednern, die ich hörte, kann sich kein einziger mit ihm vergleichen. Ich traf ihn zum erstenmal jenseits der Mogollon-Berge am Rio Puerco. Die Navajos hatten mich gefangengenommen und für den Marterpfahl bestimmt; da erschien er unter ihnen und ergoß eine so gewaltige Rede über sie, daß sie mich freigaben, als seine letzten Worte noch kaum verklungen waren. Er war ein großer Geist und auch am Körper ein wahrer Goliath, der sich selbst vor dem grauen Bär nicht fürchtete.“
„Uff! Das ist kein anderer Mann als Ikwehtsi'pa gewesen!“
„Nein. Der Häuptling der Apachen wird sich irren. Er wurde von den Navajos Sikis-sas genannt.“
„Das ist ganz derselbe Name. Er war ein Moqui, und die zwei Namen bedeuten in beiden Sprachen ganz dasselbe, nämlich ‚Großer Freund‘. Von den Weißen in Neu-Mexiko und andern Spanisch sprechenden Leuten wurde er Padre Diterico genannt.“
„Das stimmt; das stimmt! Also Winnetou hat ihn auch gekannt?“
„Ich habe ihn gesehen und ihn sprechen hören, als ich noch ein kleiner Knabe war. Seine Seele gehörte dem großen, guten Manitou, sein Herz der unterdrückten Menschheit und sein Arm jedem weißen oder roten Mann, der sich in Gefahr befand oder sonst der Hilfe bedurfte. Seine Augen strahlten nur Liebe; seinem Wort konnte kein Mensch widerstehen, und alle seine Gedanken waren nur darauf gerichtet, Glück und Heil um sich her zu verbreiten. Er war Christ geworden und hatte zwei Schwestern, die er auch zu Christinnen machte. Der gütige Manitou hatte diesen Schwestern große Schönheit verliehen, und viele, viele Krieger
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