09 - Old Surehand III
graben?“
„Wo war das Grab? Im harten Fels doch nicht?“
„Nein, sondern eng an demselben. Der Hügel war mit Moos bewachsen und schien gepflegt zu sein.“
„In der Einöde da oben? Uff!“
„Das ist noch gar nicht verwunderlich. Unbegreiflich aber ist, was mir dann passierte. Ihr könnt euch denken, Mesch'schurs, wie mir zumute wurde, als ich hier so unerwartet das Grab des Paters fand. Meine Schwäche kehrte verdoppelt zurück; ich stieß einen Schrei aus und fiel um. Als ich wieder erwachte, war fast ein ganzer Tag vergangen, denn es war der Vormittag des nächsten Tages. Ich konnte vor Mattigkeit und Hunger kaum aufstehen. Ich schleppte mich zur nahen Quelle und trank; dann kroch ich in das Gebüsch, wo ich zum Glück ein paar eßbare Mushrooms (Pilze) fand, die ich so verzehrte, wie sie waren; dann schlief ich wieder ein. Als ich abermals erwachte, war der Abend nahe; neben mir lag ein halbes, gebratenes Bighorn (Dickhornschaf). Wer hatte es hingelegt? Das war gewiß eine nicht unwichtige Frage; aber ich legte sie mir nicht mehr als einmal vor, sondern griff zu und aß, aß, aß und aß, bis ich satt war und wieder ein- und bis zum nächsten Morgen schlief, wo ich gestärkt erwachte. Der Rest des Fleisches lag noch da. Ich versteckte es und machte mich auf, nach dem Geber zu suchen; aber ich fand keine Spur, und auch all mein Rufen war umsonst. Da kehrte ich zum Grab zurück, nahm das Fleisch aus dem Versteck und mache mich auf den Weg, der hinunter nach der Foam-Kaskade führt. Er ist sehr gefährlich; ich legte ihn aber glücklich zurück und fand am folgenden Tag, eben als mein Fleisch auf die Neige gegangen war, einen Jäger, der sich meiner annahm. Wie ich dann vom Park herunter und heimgekommen bin, das ist hier Nebensache. Die Hauptsache habe ich erzählt, und der Häuptling der Apachen wird meiner Behauptung, daß der Padre Diterico ermordet worden ist und also nicht mehr lebt, Glauben schenken.“
Winnetou hielt den in die Hand gestützten Kopf tief gesenkt, so daß ich sein Gesicht nicht sehen konnte; als er ihn dann hob, sah ich noch immer den Ausdruck des Zweifels in seinen Zügen liegen. Er richtete einen fragenden Blick auf mich, und ich antwortete auf diese stille Aufforderung:
„Meines Dafürhaltens unterliegt es keinem Zweifel, daß der Mord wirklich geschehen ist.“
„So glaubt mein Bruder Shatterhand an das Grab und an die Schrift?“ fragte der Apache.
„Ja.“
„Ist es nicht möglich, daß es noch einen andern Padre Diterico gegeben hat?“
„Ja, das ist möglich.“
„So ist die Schrift kein Beweis, daß Ikwehtsi'pa in diesem Grab liegt; es kann ein Padre gleichen Namens sein.“
„Es ist der, den du meinst!“
„So hat mein Bruder Shatterhand wohl noch andere Beweise?“
„Ja.“
„Winnetou sieht dir an, daß du wieder einmal nachdenkst und Berechnungen machst. Beziehen sie sich auf das Grab im Gebirge?“
„Ja. Unser gastfreundlicher Mr. Harbour hat mir mehr, weit mehr erzählt, als er ahnt. Ich habe endlich, endlich den so lange vergeblich gesuchten Wawa Derrick gefunden.“
„Uff, uff! Wer ist's?“
„Ikwehtsi'pa.“
„Uff!“
„Du wirst dich noch mehr wundern über das, was ich dir weiter sage. Tokbela, die jüngere Schwester des Padre, ist Tibo wete, die Squaw des Medizinmannes der Naiini-Komantschen.“
„Uff! Bist du allwissend?“
„Nein; ich denke nur nach. Infolge dieses Nachdenkens kann ich dir auch sagen, daß Tehua, die ältere Schwester des Padre, vielleicht auch noch lebt.“
„Deine Gedanken können Wunder tun; sie wecken Tote auf!“
„Du hast gehört, daß unter der Grabinschrift eine Sonne eingemeißelt war. Die ältere Schwester hieß Tehua, die Sonne; sie hat das Grab errichtet und das Mal hergestellt, also noch gelebt, als er ermordet worden war.“
„Uff! Dieser Gedanke ist so einfach und richtig, daß ich mich wundere, nicht selbst darauf gekommen zu sein! Aber wenn Tehua wirklich noch leben sollte, wo werden wir sie zu suchen haben?“
„Das weiß nur sie allein. Sie hält sich im verborgenen; sie läßt es niemanden wissen oder darf es niemanden Wissen lassen.“
„Woraus schließest du das?“
„Das halbgebratene Bighorn war von ihr.“
„Uff!“
Der sonst so scharfsinnige Winnetou kam heut gar nicht aus seinen Uffs der Verwunderung heraus; das war aber gar nicht etwa ein Beweis, daß ich ihm im folgerichtigen Denken und Schließen überlegen war, o nein! Ich hatte eben mehr Stoff zum Nachdenken über
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