Projekt Omega
1
Die Abenddämmerung färbte den Himmel über Washington blutrot. Vor dem Weißen Haus verscheuchten Scheinwerfer die Schatten der hereinbrechenden Nacht und übergossen die weißen Fassaden mit ihrem Flutlicht. Am südlichen Hauptportal hatten vier dunkel gekleidete Agents des Secret Service Aufstellung genommen, Bodyguards des Präsidenten. Regungslos und breitbeinig standen sie da - massige Männer, bereit, beim kleinsten Anzeichen von Gefahr die großkalibrigen Waffen unter ihren Jacketts hervorzuzaubern. Ihre Augen waren starr geradeaus gerichtet, scheinbar ohne etwas Bestimmtes anzuvisieren. In Wahrheit musterten sie misstrauisch einen jungen Mann im eleganten Smoking. Er stand wenige Schritte entfernt an der Außentreppe, die zur Zufahrt hinunterführte. Seinem FBI-Ausweis nach lautete sein Name Jeremiah Cotton.
Der G-Man war mittags mit dem Flieger aus New York gekommen. Den größten Teil des Nachmittags hatte er in seinem Hotelzimmer verbracht und am Laptop Bürokram erledigt. Gegen 19 Uhr war er mit einem Taxi zum Weißen Haus gefahren.
Da lehnte er nun mit ausdruckslosem Gesicht an einer der sechs Außensäulen, die das markante, halbkreisförmige Vordach über dem Aufgang stützten. Zunehmend kämpfte er gegen eine nervöse Anspannung. Inzwischen spielte er ernsthaft mit dem Gedanken an einen strategischen Rückzug. Er fühlte sich hier wie ein Teil in einem falschen Puzzle. Er gehörte nicht in diese mondäne Welt.
Einmal im Jahr gab der amerikanische Präsident ein spezielles Bankett im Weißen Haus. Geladen waren ausschließlich Personen, die sich in den vergangenen zwölf Monaten in besonderer Weise um die Sicherheit der Nation verdient gemacht hatten. Auf der Gästeliste fanden sich gewöhnlich hohe Tiere aus der Politik, vom Militär, den Police Departments und den Geheimdiensten. Entgegen dieser Tradition zählten dieses Jahr auch zwei Vertreter des niederrangigen Fußvolkes zum illustren Kreis der Auserwählten. Zwei Special Agents vom FBI namens Philippa Decker und Jeremiah Cotton.
Wenige Schritte vor Cotton bewegte sich ein Strom Limousinen der oberen Luxusklasse vorbei. Stoßstange an Stoßstange rollten sie über die Zufahrt heran und stoppten nacheinander in Höhe des Portals. Ein Hausdiener öffnete den festlich gewandeten Insassen die Tür. Anschließend brauste das Auto weiter, und das Prozedere wiederholte sich mit dem nächsten Fahrzeug.
Cotton brütete seit einer halben Stunde über seine Situation: Kein Mensch würde ihn auf dem Bankett vermissen, wenn er stattdessen den Abend in einer Bar in Brooklyn bei Livemusik und einem guten Single-Malt-Whisky verbrachte. Der nächste Flug nach New York ging in knapp einer Stunde. Mit etwas Glück könnte er die Maschine noch erwischen. Andererseits hatte er viel Mühe in sein Äußeres investiert. Wäre schade, wenn er jetzt einen Rückzieher machte.
Aus einem unerfindlichen Grund fühlte er sich plötzlich beobachtet, drehte sich um und erblickte seine Partnerin. Philippa »Phil« Decker stand an der Flügeltür, durch die die Gäste ins Weiße Haus strömten. Die Agentin hatte sich mächtig in Schale geworfen. Fast hätte Cotton sie in ihrem eleganten Cocktailkleid, das für ihre Verhältnisse bemerkenswert viel Haut offenbarte, nicht wiedererkannt. Vor allem das Dekolleté gewährte tiefe Einblicke, zumal sie im Dienst vorwiegend nüchterne Hosenanzüge trug.
Nach einem kurzen Blickkontakt ergab sich der G-Man in das Unvermeidliche. Schicksalsergeben zuckte er mit den Schultern, vergrub die Hände in den Hosentaschen und setzte sich Richtung Eingang in Bewegung.
»Ich bin mir nicht sicher, was gerade in Ihrem Kopf vorgeht«, sagte Decker, als er in Hörweite kam. »Aber es ist wohl besser, Sie halten es unter Verschluss.«
»Sagen Sie bloß, Sie führt die Sehnsucht zu mir.«
»Bedaure«, erwiderte Decker spröde. »Nicht die Sehnsucht, sondern Mr High. Unser Chef hegt die Befürchtung, Sie könnten sich verkrümeln.«
»Er hatte immer schon ein gutes Näschen«, murmelte Cotton.
»Nervös?«
»Ich weiß nicht«, antwortete er wahrheitsgemäß, während sie eine Sicherheitsschleuse durchschritten und in das imposante Vestibül gelangten. »Weshalb sind wir hier? Was war das noch mal?«
»Weil wir die Welt gerettet haben«, erinnerte Decker ihn. »Und nicht nur einmal.«
»Wirklich? Dann geht es wohl in Ordnung, dass der Präsident uns einen Drink spendiert. Sie sehen übrigens grandios aus in dem Kleid.«
»Das ist das
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