0902 - Zurück zu den Toten
Sonne war weiter in Richtung Westen gewandert. Sie färbte den Himmel nicht mehr rot. Statt dessen leckte die Dämmerung wie mit langen, grauen Zungen über das Firmament hinweg und ließ die Welt in ihrer anfänglichen Düsternis versinken.
Noch war es Zeit, den Steinkreis zu betreten. Amanda zwängte sich zwischen zwei Steinen hindurch. Und als sie endlich die Mitte erreicht hatte, da stellte sie fest, daß die unterschiedlich großen Steine zahlreiche Einbuchtungen hatten, die aussahen wie Höhleneingänge. Ein Mensch hätte bei Regen durchaus Schutz darin finden können.
Amanda hatte hier etwas zu tun. Zum letztenmal, wie sie sich selbst eingestand, und sie war darauf erpicht, alles noch einmal genau zu kontrollieren.
Sie ging auf einen bestimmten Stein zu, blieb davor stehen und bückte sich dann, um unter den Vorsprung zu kriechen. Als sie den Schatten entdeckte, huschte für einen winzigen Moment ein Lächeln über ihr Gesicht.
Amanda kroch weiter, bis sie den Schatten erreicht hatte, der sich bald als Mensch entpuppte.
Sie atmete tief durch. Ihre Nasenflügel vibrierten, in der Kehle sammelte sich Speichel. Amanda kroch so weit vor, bis sie den dort Liegenden erreicht hatte.
Der Mann trug einen grauen Mantel, was sie sehr zufrieden machte, denn sie hatte ihm das Kleidungsstück vor wenigen Nächten gebracht.
Daß er den Mantel jetzt trug, war ein Beweis dafür, wie gut sie mit ihrer neuen Theorie zurechtkam.
Die Frau atmete heftig, als sie neben der Gestalt kniete. Sie griff in die Manteltasche und förderte ein schmales Feuerzeug zutage. Amanda brauchte Licht, in dieser Umgebung war es einfach zu dunkel, und das Gesicht des Mannes war nicht mehr als ein grauer Fleck. Sie mußte lächeln, als sie den Hut auf dem Kopf erkannte. Auch ihn hatte sie ihm besorgt.
Amanda rutschte noch ein Stück näher an den Kopf der liegenden Gestalt heran und machte erst Licht, als sie die für sie richtige Position erreicht hatte.
Der Wind schaffte es, sich in jede Lücke zu drücken. Auch hier unter dem Stein spürte sie ihn, denn er blies ihr die Flamme sofort aus. Sie startete einen zweiten Versuch und schirmte die Flamme diesmal mit der anderen Hand ab.
Jetzt klappte es.
Das tanzende Licht ließ das Gesicht aus der Dunkelheit auftauchen.
Amanda hielt den Atem an.
Sie hatte es gesehen, leider nur für einen Moment, dann hatte sie die Flamme löschen müssen, weil sie sich sonst verbrannt hätte. Aber Amanda hatte vorgesorgt. Diesmal griff sie in die andere Tasche, in der die Kerze steckte. Sekunden später brannte der Docht, und Amanda stellte die Kerze neben dem Kopf ab.
Jetzt war alles besser zu sehen. Die Haut war eingefallen in Höhe der Wangen. Die Nase stach hervor wie ein Säbel. Über den Augen malten sich die dunklen Brauen ab.
Amanda störte sich nicht daran, daß die Lippen aufeinander lagen, so daß der Mund nicht mehr als einen dicken Strich bildete. Das gehörte alles dazu, es war völlig normal, und sie war auch zufrieden.
Mit beiden Händen umfaßte sie die Schultern der liegenden Gestalt. Für einen Moment tat sie nichts und schaute nur nach, ob allein durch ihre Berührung Bewegung in den Toten kam.
Es war nicht der Fall.
Amanda Serrano gab trotzdem nicht auf. Ihre Hände wanderten von zwei verschiedenen Seiten auf das Gesicht zu.
Die Fingerkuppen glitten über die kalte Haut hinweg. Sie spürte darunter kein Leben, keine Adern, nicht die Spur von Wärme. Dieser Mann war so kalt wie eine Leiche, und jeder andere Mensch hätte ihn wohl auch als eine Leiche angesehen, nicht aber Amanda.
Sie wußte es besser, und sie fing an, mit den Fingern über die Haut zu reiben. Ihre Hände bewegten sich dabei kreisförmig. Auch die Lippen blieben nicht stumm. Immer wieder murmelte sie leise Worte, als wollte sie die reglose Gestalt beschwören.
Warten, lauern auf das Unmögliche.
Die Kerze gab das Licht in einem unruhigen Schein ab. Es spiegelte sich auch an der niedrigen Decke des Gesteins wider, wo seltsame Schattenfiguren entstanden, die nie auf einen Ort beschränkt blieben und immer wieder wanderten.
»Komm!« flüsterte die Frau. »Komm endlich! Ich weiß, daß du nicht tot bist, auch wenn es so aussieht. Ich weiß es genau. Bitte, ich will, daß du erwachst. Du hast es bewiesen. Du bist nicht tot. Du hast die Kleidung genommen, die ich dir brachte. Du hast sie angezogen, du bist wach, du bist wirklich wach…«
Das letzte Wort war nur schwach zu verstehen, doch es schien, als hätte die
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