0909 - Drachentod
Jahrhunderts. Wer mochte da schon glauben, dass neun uralte Magier die Geschicke der Sieben-Millionen-Metropole beherrschten. Dass sie mit Hilfe ihrer zahllosen Diener jeden Lebensbereich der ehemaligen Kronkolonie kontrollierten, vom organisierten Verbrechen bis zur Welt der Politik und der Hochfinanz.
Doch die Neun Drachen waren Realität. Und in diesem eher unscheinbaren Teil des gigantischen Hafens betrieben sie ein florierendes illegales Spielkasino für all diejenigen, die keine Lust hatten, für ein kleines Spielchen ins benachbarte Macao zu fahren.
Der schwarze BMW, der gegen Mitternacht am Kai hielt, unterschied sich kaum von den anderen Wagen, die hier im Laufe der Nacht ihre betuchten Passagiere absetzten. Doch an dem Mann, der aus dem Fond stieg, war etwas, das ihn deutlich von den anderen Kasinobesuchern abhob.
Es war weniger der Mann selbst. Er war Anfang dreißig, wirkte durchtrainiert und trug einen gut geschnittenen weißen Anzug. Seine stechenden Augen und der schwarze Schnurrbart verliehen seinem Gesicht einen grausamen Zug. Viel auffälliger war jedoch das Verhalten der Menschen um ihn herum, aus dem eine sonderbare Mischung aus Respekt und Furcht sprach. Jede Geste, jeder Blick signalisierte: Dieser Mann war gefährlich, und es war besser, ihm nicht in die Quere zu kommen.
Der Mann hieß Lam Chi-Wei und galt als einer der talentiertesten Nachwuchsmagier der Neun Drachen. Doch im Gegensatz zu vielen seiner zauberkundigen Brüder hielt er nicht viel davon, sich ins Kloster der Bruderschaft in Mong Kok zurückzuziehen und über uralten magischen Formeln zu brüten. Lam war ein Mann der Tat. Im Auftrag der Bruderschaft kontrollierte er das Glücksspiel im Hafen, außerdem war er für einen großen Teil des Drogenhandels und der Prostitution in Kowloon zuständig.
Es gab Gerüchte, dass die Betrauung mit so niederen Aufgaben ursprünglich eine Strafmaßnahme gewesen war, um den brennenden Ehrgeiz des begabten Zauberers zu dämpfen. Doch offenbar fühlte sich Lam hier erst recht in seinem Element.
Nicht wenige lästerten hinter vorgehaltener Hand, dass die Oberhäupter der Neun Drachen Magier seien, die sich im Laufe der Zeit in Gangster verwandelt hätten, während Lam Chi-Wei ein Gangster sei, der dummerweise auch ein äußerst begabter Magier war. Dem entsprach auch sein Äußeres. Während die meisten Mönche des Ordens die traditionellen safrangelben Kutten mit dem Drachenmotiv trugen, bevorzugte Lam maßgefertigte weiße Anzüge und protzigen Goldschmuck.
Auch das trug nicht gerade dazu bei, ihn in den Augen seiner Kritiker seriöser erscheinen zu lassen. Aber Lam war das egal. Solange seine Geschäfte genug Gewinne abwarfen, ließen ihn die Drachen gewähren. Und seine Geschäfte liefen außerordentlich erfolgreich, daran bestand kein Zweifel.
Lam zündete sich lässig eine Zigarette an, während er den Steg betrat. Der bullige Wächter verbeugte sich so tief, dass seine Stirn fast den Boden berührte. Lam schenkte ihm ein sanftes Lächeln.
»Wie geht es deiner Frau, Chu?«
Vor ein paar Monaten war bei Chus Frau Brustkrebs diagnostiziert worden. Für jemanden in ihrer finanziellen Situation war das ein sicheres Todesurteil. Wie so viele in der Stadt war das Ehepaar nicht krankenversichert, und die Ersparnisse waren kaum der Rede wert. Aber Lam hatte ohne mit der Wimper zu zucken die Krankenhausrechnung bezahlt.
»Sie ist wieder vollkommen gesund«, sagte der Mann mit erstickter Stimme. »Ich weiß gar nicht, wie ich Euch danken soll, Herr. Ich stehe auf ewig in Eurer Schuld.«
Ja, das tust du , dachte Lam. Aber stattdessen sagte er nur. »Hauptsache, es geht ihr wieder gut. Richte ihr meine besten Grüße aus.«
»Das tue ich, Herr, das tue ich!«
Die greisen Köpfe der Neun Drachen hatten sich schon so lange in ihrem Kloster in Mong Kok verschanzt, dass sie den Kontakt zum Volk längst verloren hatten. Doch Lam war anders. Er kannte die Sorgen der kleinen Leute, ihre geheimen Träume und größten Nöte, und er wusste sie sich zunutze zu machen. Mit Druck, wenn nötig, aber auch mit Freundlichkeit und kleinen Geschenken. Die Krebsoperation von Chus Frau hatte ein paar tausend Hongkong-Dollar gekostet, aber dafür hatte er jetzt einen weiteren loyalen Diener, der für ihn notfalls in den Tod gehen würde.
Und das war unbezahlbar.
Als Lam das Kasino betrat, schlug ihm eine Welle aus Lärm, Zigarettenqualm, Alkoholdunst und teurem Parfüm entgegen. Die Spieltische waren zu dieser
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