0909 - Drachentod
hier raus. Sofort. Eilig warf sie einen Schein auf den Tisch und stürmte aus der Bar. Lautes Kreischen drohte ihre Trommelfelle zu zerreißen. Dann wimmerte jemand flehentlich um sein Leben. Es war Simon Wang. »Bitte, ich habe Familie…«
Ein heiseres Fauchen war die einzige Antwort. Es klang zutiefst unmenschlich, fast wie bei einem Raubtier. Von Wangs Gespielin war nichts zu hören. Vielleicht war sie schon tot.
In der Lobby hielt Chin-Li für einen Moment inne, um sich zu orientieren. Die Fahrstühle befanden sich alle in den oberen Etagen. Also die Treppe!
Verdutzte Hotelgäste blickten Chin-Li nach, als sie die Stufen heraufstürmte. Die Beretta flog ihr förmlich in die Hand. Die Waffe, deren virtuoser Gebrauch einst ihren düsteren Ruf als Scharfrichterin der Neun Drachen begründet hatte, diente heute nur noch zur Selbstverteidigung. Seit ihrer Abkehr von den Neun Drachen hatte Chin-Li niemanden mehr getötet.
Zumindest keinen Menschen.
Endlich hatte sie die sechste Etage erreicht. Der Krach war inzwischen so infernalisch, dass das ganze Hotel alarmiert sein musste. Es hörte sich an, als würde ein missgelaunter Riese die Möbel wie Spielzeug umherwerfen. Das Schreien war in ein ersticktes Gurgeln übergegangen, und dann hörte die Kriegerin etwas, das klang wie das Reißen von Fleisch.
Der Flur war fast leer, doch viele Türen standen einen Spalt offen und verängstigte Augenpaare starrten sie an. Rüde stieß Chin-Li ein leichenblasses Zimmermädchen zur Seite, das verloren im Gang stand und auf die Zimmertür von 611 starrte. Durch das schwere Holz und über ihren Ohrstecker hörte die Kriegerin zeitgleich das Zerbersten von Glas.
»Verschwinde!«, schrie Chin-Li das Mädchen an und warf sich gegen die Tür. Das Schloss gab sofort nach. Die Kriegerin flog in den Raum, rollte sich ab und kam katzengleich wieder auf die Beine.
Das Bild, das sich ihr bot, schien direkt aus einem Splatterfilm zu stammen. Die Einrichtung war wie von einem Tornado durcheinandergewirbelt worden. Simon Wang oder das, was von ihm übrig war, lag auf dem Bett. Gebrochene Augen starrten sie an und schienen stumm um Hilfe zu flehen. Die Eingeweide des Analysten hatte das, was hier gewütet hatte, im Blutrausch im ganzen Raum verteilt.
Durch die zerborstene Fensterscheibe wehte ein leichter Wind hinein und verfing sich in den Vorhängen. Draußen hatte es angefangen zu regnen.
Von Wangs Gespielin entdeckte Chin-Li nur ein paar zerfetzte Kleidungsstücke. Möglicherweise hatte der Mörder sie mitgenommen.
Oder…
Die Waffe im Anschlag, näherte sich Chin-Li vorsichtig dem Fenster, durch das der Killer offenbar geflohen war. Sie befanden sich im sechsten Stock. Kein normaler Mensch konnte so einen Sprung überleben. Doch die chinesische Kriegerin wusste nur zu gut, wozu jemand in der Lage war, der sein Leben lang aufs Töten trainiert worden war.
Außerdem bezweifelte sie stark, dass ein Mensch für dieses Blutbad verantwortlich war…
Hinter ihr wurden Stimmen laut. Offenbar hatte Chin-Lis Eingreifen den Bann gebrochen. Der Flur füllte sich mit verstörten Gästen und Hotelangestellten, und ein paar ganz Mutige trauten sich sogar einige Schritte ins Zimmer. Eine Frau kreischte hysterisch, jemand solle gefälligst die Polizei rufen, und ein Mann erbrach sich beim Anblick des zerfetzten Körpers, bevor ihn andere Gäste aus dem Raum zogen.
Chin-Li blendete die Störungen mental aus und konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Durch das Fernster blickte sie auf moderne Bürogebäude, die zu dieser Stunde bereits völlig verwaist waren. Dazwischen lag ein kleiner Hinterhof, von dem kleine Gassen zu den belebten Hauptstraßen führten.
Durch den immer heftiger werdenden Regen konnte Chin-Li in der Dunkelheit kaum etwas erkennen. Vermutlich war der Mörder längst im Gewimmel der Stadt verschwunden. Sie wollte sich schon abwenden, als sie das Geräusch hörte. Und dann sah sie viele Meter unter sich das Augenpaar.
Es waren gelbe Raubtieraugen, die durch den Regen zu ihr heraufstarrten. Von dem dazugehörigen Körper konnte Chin-Li nur einen groben Umriss erkennen. Er war groß und erinnerte mehr an eine riesige, aufrecht stehende Katze als an einen Menschen.
Dann wandte sich die Kreatur ab und verschwand in der Dunkelheit. Für einen Moment war Chin-Li versucht, der Bestie einfach hinterherzuspringen, doch dann siegte die Vernunft. Sie würde das Wesen niemals einholen, und es nützte niemandem etwas, wenn sie zerschmettert
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