0909 - Drachentod
überraschen können. Rein biologisch gesehen war es natürlich nicht gerade unwahrscheinlich, dass die schöne Ex-Killerin wie andere Menschen auch Vater und Mutter besaß, aber wirklich vorstellen konnte er sich das beim besten Willen nicht.
»Ich dachte, Sie wären bei den Neun Drachen aufgewachsen…«
Für einen Moment schien die junge Chinesin zu zögern, bevor sie antwortete.
»Es gab ein Davor, Jenkins. Selbst für jemanden wie mich. Und ich frage mich, was Sie darüber wissen.«
»Nichts, meine Liebe, tut mir aufrichtig leid.« Bedauernd zuckte Jenkins mit den Schultern. »Meister Shiu bespricht mit mir nicht gerade die Familienangelegenheiten der Bruderschaft. Ich bin schließlich kaum mehr als ein Laufbursche, wissen Sie?«
»Ich weiß genau, was Sie sind. Vergessen Sie das nie.«
Der Brite spürte, wie sein rechtes Bein unkontrolliert anfing zu zucken. Wenn eine so kontrollierte Person wie Chin-Li ihm Einblick in ihre privatesten Angelegenheiten gab, war höchste Vorsicht geboten. Diese Frau war ein menschlicher Lügendetektor, und sie würde ihm keine Halbwahrheiten durchgehen lassen.
»Okay, Laufbursche ist vielleicht etwas untertrieben. Britisches Understatement, Sie verstehen? Stört es Sie, wenn ich rauche?«
Jenkins fand diese Frage selbst absurd, schließlich war hier seine Wohnung. Anderseits war ganz klar, dass nicht er derjenige war, der hier im Moment das Sagen hatte. Die junge Chinesin machte nur eine unwirsche Geste, die ihre ganze Verachtung gegenüber westlicher Dekadenz und ungesunder Lebensweisen ausdrückte.
»Danke«, murmelte der Ex-Agent und nestelte nervös eine zerknautschte Schachtel Pall Mall aus seinem Jackett. Seine Finger zitterten so, dass es ihm erst beim zweiten Versuch gelang, den Glimmstängel anzuzünden. Erleichtert nahm er einen tiefen Zug.
»Ich weiß nichts über Ihre Eltern, Teuerste. Ich schwöre beim Leben meiner süßen kleinen Mutter, der der Herr noch viele schöne Jahre schenken möge. Wohnen sie in Hongkong?«
»Cheung Chau.«
»Oh, idyllisch…«
»Ich habe vor einiger Zeit wieder Kontakt zu ihnen aufgenommen. Die Neun Drachen wissen nichts davon. Zumindest dachte ich das.«
»Was ist passiert?«
Jenkins zuckte zusammen, als die Kriegerin mit der linken Hand in eine Tasche ihres Mantels griff, doch sie holte nur ein Foto hervor, das sie ihm zuwarf. Es zeigte einen typischen chinesischen Wohnraum. Ein scheinbar harmloses Bild, aber Jenkins kannte diese Art von Botschaften nur zu gut. Er hatte zu viele von ihnen selbst überbracht.
»Das sieht böse aus«, murmelte der Brite.
Chin-Li nickte, und für einen Moment glaubte der Ex-Agent, Resignation und tiefe Müdigkeit in ihren Augen zu sehen. »Meine Eltern sind verschwunden. Als ich nach ihnen sehen wollte, wurde, ich von zwei Tigerfrauen angegriffen.«
»Autsch!« Jenkins' Respekt vor der jungen Chinesin wuchs ins Unermessliche. Dafür, dass sie gerade mit zwei haarigen Bestien Catchen gespielt hatte, sah sie eigentlich noch ganz gut aus.
»Ich muss wissen, was dahinter steckt. Vor ihrem Tod erwähnte eine der Kreaturen einen Lam.«
»Lam Chi-Wei?«
»Das vermute ich. Bevor ich Hongkong verließ, war er auf dem besten Weg, in der Drachen-Hierarchie ganz nach oben zu steigen.«
Jenkins grinste schief. »Seitdem hat Lams Karriere einige interessante… Wendungen genommen. Inzwischen ist er mehr Gangster als Priester. Kontrolliert die Kasinos im Hafen und noch einiges mehr.«
»Wäre er fähig, so eine Operation ohne das Wissen von Meister Shiu durchzuführen?«
»Wenn jemand dazu in der Lage wäre, dann er.«
Chin-Li nickte. »Wie komme ich an ihn heran?«
»Lam besitzt eine Art Büro in Causeway Bay, wo er regelmäßig Sprechstunden abhält. Der Laden ist allerdings bewacht wie eine Festung.«
Chin-Lis Lippen zuckten. Ihre Version eines grimmigen Lächelns. »Wachen sind kein Problem.«
»Nein, natürlich nicht.«
»Aber vorher muss ich mit Meister Shiu sprechen. Der Respekt gebietet, dass ich ihn zumindest informiere, bevor ich einen seiner Magier attackiere.«
»Er wird entzückt sein, davon zu hören.« Jenkins drückte die Kippe in einem Glasaschenbecher aus. »Ich werde gleich morgen einen Termin machen.«
»Jetzt.«
»Jetzt? Teuerste, es ist mitten in der Nacht, er wird…« Ein Blick in Chin-Lis Augen ließ den Briten verstummen. »Okay, jetzt, warum nicht?«, murmelte er resigniert.
»Und wir brauchen keinen Termin. Wir fahren gleich los.«
»Wir, Sie meinen Sie und
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