0909 - Drachentod
winziger Wirbel auf einer sonst glasklaren Wasseroberfläche. Eine Störung, in der allumfassenden Harmonie des Universums.
Das greise Drachen-Oberhaupt befand sich allein im Heiligtum der Neun Drachen und meditierte. Seine Brüder hatten sich längst in ihre kargen Zellen zurückgezogen. Doch was war mit den Wachen? Hatten sie den Eindringling nicht bemerkt? Als sein Geist in die Nacht hinausgriff, spürte Meister Shiu, dass alle Bewohner des Klosters, von den zauberkundigen Mönchen bis zu den Hausdienern, in einen unnatürlichen Schlaf gefallen waren.
Er hätte versuchen können, seine Brüder zu wecken. Doch Meister Shiu wusste, dass es zu spät war. Sie wären nie rechtzeitig erwacht, um ihm im Kampf beizustehen. Außerdem war dies eine persönliche Angelegenheit. Der Schüler begehrte auf gegen den Meister. Einer der ältesten Konflikte der Welt.
Fast lautlos glitt die Tür hinter ihm auf. Der alte Mann musste unwillkürlich lächeln, als er daran dachte, mit welchem Getöse der Fremde ins Heiligtum der Bruderschaft eingedrungen war. Eine von wild um sich schießenden Gangstern begleitete Naturgewalt, die jeden Widerstand gnadenlos hinweggefegt hatte. Lam war genau das Gegenteil. Er schlich sich an wie ein Dieb in der Nacht. Ja, Lam war dezenter als der Fremde . Aber das machte ihn nicht weniger gefährlich.
Mit einer fließenden Bewegung, die man einem Mann seines Alters kaum zugetraut hätte, stand Meister Shiu auf. Noch immer wandte er dem Eindringling den Rücken zu.
»Ich habe dich erwartet, Lam.«
»Ihr seid alt geworden, Meister. Aber Eure Fähigkeiten sind nach wie vor beeindruckend.«
»Ebenso wie deine. Nur wenigen ist es gelungen, hier einzudringen. Noch weniger sind lebend wieder herausgekommen.«
Ein leises Kichern in Shius Rücken war die Antwort auf die unverhohlene Drohung. Das Drachen-Oberhaupt drehte sich um und sah Lam direkt in die Augen.
»Warum, Lam? Du warst immer mein bester Schüler…«
Der junge Zauberer sog scharf die Luft ein, doch dann lächelte er. »Ja, und seht, wie weit ich es gebracht habe. Ich beaufsichtige Glücksspieler und Nutten. Jeder kleine Kapo könnte diesen Job machen.«
»Du bist zu ungeduldig. Das war immer dein Problem. Großes Talent, vielleicht das größte, das mir je begegnet ist, aber ohne jedes Vertrauen in die glückliche Fügung des Schicksals.«
Der Jüngere lachte laut auf. »Das Schicksal, alter Mann, taugt nichts, wenn man es nicht selbst in die Hand nimmt.«
Das Drachen-Oberhaupt nickte traurig. »Dann ist es jetzt so weit?«
»Ich fürchte ja.«
»Also gut.« Meister Shiu straffte sich. Automatisch strich er mit der rechten Hand seine Robe glatt. Wenn er diesen Kampf nicht überleben sollte, wollte er wenigstens in Würde aus dieser Welt treten. »Dann lass uns beginnen.«
Er riss seine Arme hoch und griff an.
***
Rupert Jenkins war kein besonders prinzipientreuer Mann. Aber wenn es eine Maxime gab, nach der er sein Leben ausrichtete, dann war das sicher Leben und leben lassen . Und seiner Meinung nach war das Leben in den letzten Wochen deutlich zu kurz gekommen.
Der fast zwei Meter große, schlaksige Brite mit dem blonden Magnum-Schnauzbart gehörte zu den Europäern, die nach der Rückgabe der ehemaligen Kronkolonie an China in Hongkong hängen geblieben war. Früher hatte er einmal in untergeordneter Funktion für den britischen Auslandsgeheimdienst MI6 gearbeitet. Doch das war lange her. Heute diente Rupert Jenkins der Bruderschaft der Neun Drachen als Informant, Kurier und Mann für spezielle Aufgaben.
Nach außen hin gab sich der stets unpassend gekleidete Ex-Agent gerne als leicht debiler Clown, eine Rolle, die er seit vielen Jahren sorgsam pflegte und immer weiter verfeinerte. Viele Triaden-Mitglieder nahmen den leicht verrückten Europäer nicht ernst, und genau das führte dazu, dass sie in seiner Gegenwart manchmal Dinge verrieten, die sie vor einem etwas konventionelleren Drachendiener niemals ausgeplaudert hätten.
Die Neun Drachen setzten den schrulligen Briten gerne als Geheimwaffe ein, und in den zurückliegenden Monaten hatte es an Aufträgen nicht gemangelt. Die internationale Finanzkrise hatte auch das organisierte Verbrechen in Hongkong nicht unberührt gelassen und für schwere Erschütterungen gesorgt. Es brannte an allen Ecken und Enden, und Jenkins war mittendrin.
Kurzum, er brauchte eine Pause. Zumal sich die Gerüchte verdichteten, dass ein neuer Bandenkrieg unmittelbar bevorstand. Rupert Jenkins war
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