0909 - Drachentod
Heiligtum der Neun Drachen. Der Saal, in dem sich die greisen Oberhäupter des Ordens regelmäßig versammelten, war vollkommen verwüstet. Und auf dem kahlen Boden lag die Leiche eines Mannes, den sie nur zu gut kannten.
Jemand hatte Meister Shiu das Genick gebrochen. Ein seltsam banaler Tod angesichts der Urgewalten, die hier getobt haben mussten.
»Er kann noch nicht lange tot sein«, sagte Nicole. »Wenn wir nur eine Stunde eher gekommen wären.«
»Ihr seid nicht die Einzigen, die zu spät gekommen sind«, sagte Chin-Li.
Die Kriegerin löste sich aus dem Schatten der hintersten Ecke des Raumes, in dem sie sich verborgen hatte. Fast verwundert registrierte Zamorra, dass sie geweint hatte. Der Parapsychologe hatte die junge Chinesin noch nie so am Boden zerstört gesehen. Sie zitterte am ganzen Körper. Doch ihre Stimme klang kalt und entschlossen.
»Wir haben Meister Shiu nicht retten können. Doch wir können ihn rächen. Und genau das werden wir tun.«
»Chin-Li, dem Himmel sei Dank, dir geht es gut!« Nicole wollte die junge Chinesin umarmen, doch die Kriegerin wehrte ab. In dieser Situation fiel es ihr noch schwerer als sonst, Nähe zuzulassen. Die Französin verstand und drückte Chin-Li nur kurz den Arm.
»Was ist mit den anderen Drachen-Oberhäuptern?«, fragte Zamorra.
»Sie leben, aber sind ohne Bewusstsein, wie alle anderen.«
»Und Lam?« Jenkins hatte ihnen von dem mutmaßlichen Drahtzieher der Attacken berichtet.
»Der feige Verräter ist geflohen.« Chin-Li spuckte die Worte fast aus. »Aber das wird ihm nichts nützen. Ich kriege ihn, wo immer er sich versteckt.« Die Chinesin sah den Parapsychologen an und der Schmerz in ihren Augen zerriss ihm das Herz. »Er hat meine Eltern, Zamorra!«
»Ich weiß, Chin-Li. Und wir werden alles tun, um ihn zu finden. Aber zunächst sollten wir die schlafenden Klosterbrüder aufwecken. Vielleicht können sie uns sagen, wo…«
Der Dämonenjäger fuhr herum, als ihn ein dezentes Hüsteln unterbrach. Im Eingang des großen Saales stand Rupert Jenkins und sah sich mit großen Augen um: »Gute Güte, das hat ja ganz schön gerumst hier.«
»Wie um alles in der Welt haben Sie sich denn befreit?«, blaffte Nicole den Briten an. »Haben Sie das Lenkrad rausgerissen?«
»Äh, nicht ganz, Mademoiselle Duval«, sagte Jenkins unglücklich und deutete hinter sich, wo im Türrahmen ein halbes Dutzend schwer bewaffneter Chinesen sichtbar wurde. »Diese Gentlemen arbeiten für Mister Lam, und sie hätten furchtbar gerne ein paar Worte mit Ihnen gesprochen.«
***
»Ich weiß gar nicht, was du willst, Chef. Eigentlich sind wir doch genau da, wo wir hinwollten, in der Höhle des Löwen.«
»Nur leider haben es diese verrückten Zauberer nicht so mit der Gastfreundschaft. Daran müssen sie echt arbeiten«, sagte Zamorra genervt.
Sie befanden sich in einer leeren Lagerhalle, die Lam offenbar kurzerhand zu seinem neuen Hauptquartier umfunktioniert hatte. Die Diener des Drachen-Rebellen hatten Zamorra, Nicole und Jenkins gefesselt und unsanft an einer Wand des zugigen Gebäudes abgelegt. Etwas weiter entfernt lagen die dürren Körper der verbliebenen acht Drachen-Oberhäupter. Auch sie lebten noch. Offenbar wollte Lam Chi-Wei mit all seinen Feinden gleichzeitig abrechnen.
Und im Mittelpunkt dieser Abrechnung stand Chin-Li. Die stolze Kriegerin kniete in der Mitte der Lagerhalle auf dem Boden. Ihre Hände und Füße waren mit Stricken gefesselt, rechts und links von ihr hatten sich zwei ehemalige Drachendiener postiert, die sie aus respektvollem Abstand mit Pistolen und einem kleinen Beil - angeblich bei Hongkongs Dieben sehr beliebt - in Schach hielten, bis Lam Chi-Wei bereit war, sich um sie zu kümmern.
Der abtrünnige Zauberer saß im Lotussitz in einer Ecke und meditierte. In unregelmäßigen Abständen murmelte er ein paar unverständliche Worte und zeichnete mit dem rechten Zeigefinger geheimnisvolle Zeichen in die Luft. Lam hatte bei ihrer Ankunft stark angeschlagen gewirkt, doch innerhalb der letzten Stunde hatte sich sein Zustand merklich verbessert. Zamorra vermutete, dass sich der Drachen-Rebell einem magischen Regenerationsritual unterzog, bei dem er normalen Menschen verborgene Kraftquellen anzapfte.
»Meinen Sie, man kriegt hier vielleicht was zu essen? Oder zumindest einen Tee?«
»Seien Sie still, Jenkins«, fuhr Nicole den Briten zu ihrer Linken entnervt an.
»Ich meine ja nur, eine Henkersmahlzeit sollte schon…«
»Ich meine es ernst,
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