092 - Der Herr des Schreckens
überhängenden Felswand im Innern der riesigen, zerklüfteten und unebenen Höhle ließen sie sich nieder.
„Was jetzt?“ fragte Sirtana.
„Wir müssen den Ausgang finden“, antwortete Nicole, „das Felsentor.“
„Wie sollen wir es finden? Ich weiß nicht einmal, in welche Richtung wir gehen müssen.“
Nicole erging es ebenso. Sie hatte es sich einfacher vorgestellt. Sie hatte gehofft, irgendwo einen Wegweiser oder eine Markierung zu entdecken, doch da war nichts, nur Dunkelheit und Kälte und nacktes Gestein.
Das Kloster der Finsternis war so weit entfernt, daß die beiden Mädchen den Glutschein nicht mehr sahen. Es war auch nichts mehr von dem Geschrei und dem Lärm dort zu hören.
Nach einer Weile zog Nicole Sirtana hoch. Sie gingen weiter durch die Dunkelheit. Ein paarmal stürzten die beiden Mädchen, holten sich Beulen und blaue Flecke und stießen sich die Knie blutig.
Dann erreichten sie eine Wand der Höhle.
„Wenn wir immer an der Wand entlanggehen, müssen wir irgendwann das Felsentor erreichen“, sagte Nicole.
Sirtana schluchzte auf.
„Und wenn wir nun in die falsche Richtung gehen? Die Höhle ist riesig. Da können wir tagelang unterwegs sein.“
„Wir müssen eben auf unser Glück vertrauen.“
Nicole und Sirtana wanderten an der Felswand entlang. Sie kamen an ein paar Höhlen vorbei, aus denen es nach Moder und Verwesung roch, und in deren Innerem furchterregende Laute ertönten. Schaudernd eilten sie weiter.
Offensichtlich hatten die Schwarzen Lamas im Kloster nun bemerkt, daß es zumindest zwei Gefangenen gelungen war, aus dem ummauerten Geviert auszubrechen. Das große Tor des Klosters wurde geöffnet, und einige Schwarze Lamas mit Fackeln machten sich auf die Suche nach den Entsprungenen. Die Fackeln waren nur kleine Lichtpünktchen in der Finsternis. Sie bewegten sich vorwärts, in der Richtung genau auf die beiden Mädchen zu. Ein schauriges Röhren und ein hohes, schrilles Zirpen hallten durch die Berghöhle.
Die Schwarzen Lamas hatten irgendeine Schreckenskreatur als Spürhund, die über Kilometer hinweg riechen oder wittern konnte, wo die Entflohenen sich befanden.
„Sie erwischen uns“, schluchzte Sirtana.
„Nein, wenn die Gruppe dort aus dem Haupttor gekommen ist, dann muß das Felsentor hier ganz in der Nähe sein.“
Der Boden wurde uneben. Die beiden Mädchen liefen über einen Untergrund, der kein Stein und auch keine Erde war. Nicole stürzte. Sie tastete umher und spürte dicke Büschel, die aus der festen, zähen, sich warm anfühlenden Masse wuchsen.
Ein nie gekanntes Grauen erfaßte das schwarzhaarige Mädchen. Kein Zweifel, die Masse, auf der sie lag, lebte, wurde von Blut oder einem anderen Saft durchpulst. Nicole hörte ein dumpfes Pochen und einen schweren, röchelnden Atemzug hoch über sich, den Atem von etwas Riesigem.
Ein schrilles Pfeifen wurde laut. Nicole sah rotglühende Punkte über eine unebene Fläche herab kommen. Sie schrie auf.
Im gleichen Augenblick wurde es taghell in der Höhle. Der Lichtschein ging von einer Kugel aus, die wie die Sonne über dem verfluchten Kloster erstrahlte und für Minuten die Finsternis vertrieb.
Nicole erkannte, wo sie sich befand, und sie schrie wie irr. An einen Felsblock gekettet, die drei Hände an eine tonnenschwere Eisenstange gefesselt, hockte am Höhlenausgang ein riesiger grauer Dämon mit schwarzem, verwittertem Kopf. Haarbüschel wuchsen auf seiner lederartigen grauen Haut.
Die unebene Fläche, auf der Nicole zu Fall gekommen war, war der rechte Fuß des Dämons. Der Dämon selbst konnte Nicole und Sirtana nicht gefährlich werden, aber auf seinem Körper wimmelte es von schuppigen, rattengroßen Schmarotzergeschöpfen mit Skorpionschwänzen, glühenden Augen und spitzen Zähnen.
Quiekend und pfeifend kamen sie unheimlich schnell auf die beiden Mädchen zu. Sirtana schrie voller Panik. Schon hatte ein Dutzend der Biester sie erreicht und fiel über sie her. Die junge Tibetanerin schlug um sich.
Nicole sah, wie die Bestien sich in sie verbissen und ihre spitzen, giftigen Schwanzstacheln in ihren Körper bohrten. Die schuppigen Untiere balgten sich um die Beute. Immer mehr wurden es. Sirtana war unter den häßlichen Körpern verschwunden.
Nicole gewann etwas Zeit, solange die Bestien mit der unglücklichen Sirtana beschäftigt waren. Sie rannte davon, vom Felsentor weg. Der riesige Dämon grollte und brüllte wegen des Aufruhrs. Nicole lief den näher kommenden Fackeln entgegen.
Sie
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