092 - Der Herr des Schreckens
doch ab, meine Herren.“
Die drei Franzosen zogen die dicken, wattierten Mäntel aus und legten sie und die Pelzkappen auf ein lederbezogenes Sofa.
„Ihre Tochter wollen Sie sehen, Professor Dulac? Das können Sie haben. Sie macht jetzt gerade mit den anderen Gefangenen ihren täglichen Rundgang im Freien.“
Chandar-Chan führte Professor Dulac und seine beiden Begleiter aus dem Vorraum in sein Arbeitszimmer. Die Bilder mit den Darstellungen von dämonischen Lebewesen und Schreckensszenen an den mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Wänden schienen zu leben.
Der Herr des Schreckens öffnete einen schwarzen Wandvorhang, der eine Nische mit einem Fenster verbarg.
Von hier aus konnte man den hinteren Innenhof des Klosters überschauen. Im Fackellicht gingen etwa hundert Männer und Frauen in Zweiergruppen im Hof herum. In der Mitte des Kreises, den diese Menschen bildeten, standen zwei Schwarze Lamas auf dem Kopfsteinpflaster des Klosterhofs. Mit ihren schwarzen Gewändern und den kahlen Köpfen wirkten sie fremdartig und finster.
„Dort sehen Sie Ihre Tochter, Professor“, sagte Chandar-Chan. „Ihr ist kein Haar gekrümmt worden.“
„Ich will mit ihr sprechen.“
Chandar-Chan überlegte einen Moment.
„Einverstanden“, sagte er dann in seinem ausgezeichneten, akzentfreien Französisch.
Chandar-Chan wollte gerade das Fenster öffnen und einen Befehl hinunterrufen, da brach ein Tumult los. Die schwarzhaarige, zierliche Nicole Dulac und die junge Tibetanerin, die neben ihr ging, begannen in panischem Entsetzen zu schreien.
Sie deuteten auf das finstere Portal des Tempels. Namenloses Grauen stand in ihren Gesichtern. Die übrigen Gefangenen wurden von der Furcht und dem Entsetzen der beiden jungen Mädchen angesteckt. Auch sie begannen zu schreien und rannten umher wie eine vom Blitz erschreckte Schafherde.
Eine Panik brach aus.
„Was ist da los, zum Teufel?“ schrie Professor Dulac.
„Das weiß ich nicht“, antwortete Chandar-Chan. „Aber damit werden wir fertig, verlassen Sie sich darauf.“
Er hatte jetzt das Fenster geöffnet. Er beugte sich heraus und schrie Befehle in den vom Fackelschein erhellten Hof hinunter. Niemand achtete auf ihn. Die Gefangenen rannten in alle Richtungen auseinander.
Sie trampelten jeden nieder, der sich ihnen in den Weg stellte.
„Diese Narren“, schrie Chandar-Chan in altertümlichem Tibetanisch. „Das ist Aufstand, Meuterei, eine Revolte. Das soll sie teuer zu stehen kommen.“
„Jetzt“, sagte Nicole Dulac während des Rundgangs zu Sirtana.
Die junge Tibetanerin zögerte. Nicole aber begann aus Leibeskräften zu kreischen. Sie starrte auf das düstere Tempelportal und verzerrte das Gesicht wie in entsetzlicher Furcht.
„Da!“ schrie Nicole. „Sie kommen, die Dämonen, sie wollen uns alle fressen.“
Niemand verstand sie, aber die Angst in ihrem Gesicht war nicht zu verkennen. Die Gefangenen in Nicoles Nähe wurden unruhig.
Nun spielte auch Sirtana mit. Sie schrie wie am Spieß, gestikulierte heftig und rief: „Die Schrecken aus dem Dämonentempel kommen hervor. Die Geister und Teufel, sie wollen unser Blut. Chandar-Chan hat uns ihnen ausgeliefert. Lauft, lauft! Rette sich, wer kann.“
Es war nichts zu sehen, aber die seit vielen Monaten mit der Furcht und dem Grauen lebenden Menschen wurden sofort von Panik ergriffen. All ihre Ängste brachen hervor. Sie rannten hin und her und begannen ebenfalls zu schreien und zu jammern.
Sirtana warf sich auf den Boden.
Die beiden Schwarzen Lamas, die die Gefangenen zu bewachen hatten, drängten sich heran. Entsetzt sahen die Gefangenen auf die sich am Boden windende Sirtana.
An der Rückfront des Klosters wurde ein Fenster geöffnet, und eine überschnappende Männerstimme schrie aus dem dritten Stock Befehle herab. Aber niemand achtete darauf.
Auch Nicole warf sich auf den Boden und wälzte sich schreiend umher. Sie schlug um sich und brüllte wie am Spieß.
Jetzt konnte nichts mehr die entsetzten Gefangenen halten. Sie stoben nach allen Richtungen auseinander. Die beiden Schwarzen Lamas, die sich ihnen entgegenstellten, wurden überrannt und niedergetrampelt.
Nicole und Sirtana drückten sich in eine dunkle Tornische. Irgendwo im Kloster hallte ein Gong. Schwarze Lamas stürzten in den hinteren Hof. Immer noch schrie Chandar-Chan aus dem dritten Stock Befehle herunter.
Allmählich gelang es ihm, sich in dem Wirrwarr verständlich zu machen.
„Laßt die Geister und die Nachtmahre frei, um
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