0923 - Die Henkerin
gewesen, und ihr Mann hatte ja auch im Bett gelegen.
Warum nicht sein Freund? Was hatte ihn dazu getrieben, den Schlaf nicht anzutreten?
Carlotta wünschte sich jetzt Licht herbei, um alles besser sehen zu können, aber das war nicht möglich. Sie hätte es nicht zaubern können, sie hatte sich auf ihren Freund, die Dunkelheit, verlassen und mußte zugeben, daß sie nicht mehr auf ihrer Seite stand.
Was tun?
Das Zimmer durchsuchen? Wieder verschwinden? Für immer das Schloß verlassen? Denn es konnte durchaus sein, daß der Bretone nach seinem Freund Ausschau halten wollte. Dann konnte er sich das Geschehen sehr schnell zusammenreimen.
Sie war nervös.
In diesem Zimmer kam sich Carlotta vor wie in einer Falle.
Zumindest Godwin hatte alles geahnt oder gewußt. Er war vorsichtiger gewesen als Don Alfonso und hatte sich aus dem Staub gemacht. Sicher war sicher.
Oder?
Während die Henkerin überlegte, ließ sie ihre Blicke durch das dunkle Zimmer schweifen. Sie erfaßte auch das offenstehende Fenster, dem ein Balkon angeschlossen war.
Plötzlich schimmerten ihre Augen. Der Balkon wäre eine Fluchtmöglichkeit gewesen. Zumindest für einen gelenkigen Kletterer, denn er hätte sich nur eben in die Höhe zu hangeln brauchen, um das nächste Gitter zu erreichen. Von dort hätte er sich dann auf den zweiten Balkon hochschwingen können und wäre einem der kleinen Anbaudächer näher gewesen. Von dort hätte er auf die Mauer springen und über die Außentreppe laufen können. Ein zwar beschwerlicher Weg, aber ein möglicher Weg.
Carlotta war sicher, daß es so abgelaufen war. Sicherheitshalber wollte sie nachschauen und bewegte sich deshalb auf den Balkon zu. Er war nicht sehr breit und hatte eine halbkreisförmige Brüstung, die sich nach außen wölbte.
Das Fenster und damit der Zutritt reichte bis zum Boden. Beide Flügel standen offen, der warme Wind wehte in den Raum und streichelte das Gesicht der Frau.
Sie konnte sich nicht darüber freuen. Ihr Herz schien riesengroß geworden zu sein. Es schlug nicht mehr, es hämmerte regelrecht. Carlotta kannte das.
Es trat immer dann ein, wenn eine für sie lebenswichtige Entscheidung kurz bevorstand.
So wie jetzt!
Sie atmete tief durch die Nase. Das Geräusch hörte sich scharf an. Sie schwitzte. Ihr Gesicht glänzte wie unter einem schweißigen Film. Den Mund hatte sie verzogen. Er zeigte kein Lächeln, sondern mehr ein angespanntes Grinsen.
Es war warm im Raum, aber ihr wurde plötzlich kalt. Dieses Gefühl rann ihr über den Rücken, und als sie die offenstehende Tür erreicht hatte, blieb sie auf der Schwelle stehen.
Der Blick glitt nach draußen.
Da lag die Welt umrahmt von der nächtlichen Finsternis. Das Meer war nicht zu sehen, nur noch zu hören. Hier glitten ihre Blicke über die dunkelgewordenen Felsen hinweg, die wie bucklige Urzeittiere wirkten, die sich zum Schlafen gelegt hatten.
Es war eine grandiose Landschaft. Wunderschön geformt, für viele Menschen das Himmelreich auf Erden, das unter einer südlichen Sonne lag. Nun aber drückte die Nacht die blauschwarze Finsternis gegen die Erde, und der Himmel hoch über Land und Meer zeigte nur hin und wieder Lücken.
Durch eine schaute der fast volle Mond. An anderen Stellen schimmerte das Licht der Sterne.
Eine wunderschöne Nacht, aber Carlotta konnte ihr kaum etwas abgewinnen. Sie dachte an ihr eigenes Schicksal und auch an ihr Leben danach. Es mußte eines geben, es mußte weitergehen, und endlich würde sie bestimmen können, wie es lief.
Das Ende der Waffe zeigte zu Boden. Sie hielt den Griff so fest, als hätte sie Angst davor, daß ihr die Machete aus den Fingern rutschen könnte.
Der nächste Schritt.
Sie stand auf dem Balkon.
Wieder ging sie vor.
Ein dritter Schritt würde sie bis an die halbrunde Brüstung heranbringen, soweit kam sie nicht.
Sie sah den Mann nicht, sie roch ihn.
Ja, man konnte einen Menschen riechen, und in diesem Fall strömte der Geruch von der linken Seite auf sie zu.
Sie drehte den Kopf.
Carlotta hatte Pech, denn sie kam nicht mehr dazu, ihre Waffe zu heben. Aus dem Schatten der Mauer schob sich etwas Langes, Blitzendes hervor. Kein Schwert, viel dünner, doch an seinem Ende auch spitzer. Sie wußte, daß de Salier eine derartige Waffe oft bei sich trug, und jetzt drückte die Spitze genau gegen ihren Hals.
»Da bist du ja endlich«, sagte er…
***
Die Worte gefielen ihr nicht. Sie konnten ihr einfach nicht gefallen, denn sie bewiesen, daß er zumindest
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