093 - Der Geist im Totenbrunnen
Stück bizarrer Romantik, dem sich niemand zu entziehen vermochte, der den Besitz einmal gesehen und kennengelernt hatte.
Leroy Chester hörte Geräusche, nein, er spürte sie eher – als zöge ein Gewitter herauf, das die Atmosphäre veränderte und noch keinen Donner erzeugte. Aber da war etwas, jenseits der Fenster, kam er näher.
Er blickte durch die Scheiben.
Ihm fiel auf, daß der Marktplatz seltsam leer wirkte. Wie ausgestorben lag er da. Die kleine Kirchturmuhr zeigte die zehnte Stunde. Um diese Zeit herrschte hier meist reger Betrieb. Die Frauen kauften ein, hielten ein Schwätzchen – in Hillory Village war der Lebensrhythmus noch nicht von Hast und Streß gekennzeichnet – hier hielt man sich etwas darauf zugute, Muße und Kontakt zu pflegen. Allerdings waren die Beziehungen zwischen Dorfbewohnern und Fremden eher kühl, und auch die Chesters hatten erst in letzter Zeit das Eis auftauen können, das anfangs wie ein Wall zwischen Hillory Village und Marhill Place gelegen hatte. Zweifellos war es Daphnes Verdienst gewesen. Mit ihrem Charme, ihrer Jugend und Schönheit hatte sie am Ende auch den sprödesten Dorfbewohner gewonnen.
Chester öffnete das Fenster, um den Kopf ins Freie zu stecken. Als er den frischen Morgenwind spürte, wunderte er sich flüchtig, daß die Wunde an seiner Schläfe nicht schmerzte. Dann fiel ihm wieder das Blutrinnsal ein. Wenn ihn jemand so am Fenster sah, mußte das für den zufälligen Beobachter ein ziemlicher Schock sein. Leroy Chester wollte den Kopf schon zurückziehen, als er bei einem flüchtigen Blick nach links den langen Trauerzug bemerkte, der sich mit düsterer Trägheit aus der Hauptstraße auf den Marktplatz zu bewegte.
Der Zug wurde angeführt von dem schwarzen, verglasten Kutschwagen, in dem der Sarg ruhte und der von vier Pferden gezogen wurde. Dahinter schritten, für Leroy vom Wagen halb verdeckt, die nächsten Anverwandten des Toten, dann folgten die Trauergäste – offenbar die halbe Gemeinde.
Damit war auch erklärt, weshalb der Marktplatz einen so verlassenen Eindruck machte.
Leroy schloß Fenster und Gardine und wartete ungeduldig, bis der Zug sich dem „OLE INN“ genähert hatte.
Er kam seltsam langsam, geradezu träge, als widerstrebe es den Teilnehmern, ja selbst den Pferden, die den Wagen zogen, den auf der anderen Ortsseite gelegenen Friedhof zu erreichen.
Leroy Chester spannte die Muskeln, ihm war plötzlich, als müßte sein Kopf zerspringen.
Die Frau, die gestützt von einem Mann, unmittelbar hinter dem Leichenwagen ging, war Daphne!
Daphne, seine Frau!
Chester fühlte sich versucht, das Fenster aufzureißen und ihren Namen zu rufen, aber der Anblick, der sich ihm bot, war von lähmender Wirkung. Er trocknete ihm buchstäblich den Mund aus, machte ihn bewegungsunfähig.
Der Wagen war jetzt fast unter dem Fenster. Auf dem schlichten, schwarzen Sarg lag nur ein Kranz. Der Aufdruck auf den beiden breiten Schleifen war klar und deutlich zu erkennen. Er lautete: MEINEM GELIEBTEN MANN LEROY CHESTER.
Chester war zumute, als müßte er schreien, aus einem Traum erwachen, aber er wußte gleichzeitig, daß er sich in der Wirklichkeit befand, die sich immer mehr zu einem Alpdruck gestaltete. Seltsamerweise schlug sein Herz jetzt fast normal.
Er würde versuchen müssen, mit dem Terror zu leben. Irgendwie begann er zu begreifen, daß er mit einer Situation fertig werden mußte, die ohne Parallelen war und die sein Leben mit einem Schlag total verändert hatte.
Man trug ihn zu Grabe.
Ihn, Leroy Chester!
Daphne sah in einem schwarzen Kostüm unverändert schön und anziehend aus. Ihr blasses Gesichtsoval war hinter einem dünnen Schleier verborgen, aber das leuchtende Goldblond ihres schulterlangen Haares vermochte sich frei zu entfalten. Es schien jeder Trauer Hohn zu sprechen und profitierte von der Kontrastwirkung des schwarzen Stoffes.
Harry O’Neill sah zutiefst betroffen aus, leidend.
Er hatte ein rundes, gutmütiges Gesicht, rötlich blondes Haar und viele Sommersprossen. Harry war erst 28, wirkte aber wie 45.
Seine jovial-witzige Art machte ihn allgemein beliebt. Er galt als guter Arzt, neigte aber dazu, das eigene Können ständig zu bespötteln und in Zweifel zu ziehen. Er, Leroy Chester, war bis auf den heutigen Tag nicht dahintergekommen, ob Harry mit diesem Understatement nur geschickt für sich Reklame machte, oder ob er sich tatsächlich für fachlich unvermögend hielt.
Harry betreute Dorf und Land in einem
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