093 - Der Geist im Totenbrunnen
Ihnen und stellen fest, wie scharf das Objektiv zeichnet…“
Mr. Conally blitzte ihn, riß das herausgleitende Bild ab und zeigte seinem Kunden, wie sich vor seinen Augen das Foto zu entwickeln begann.
Leroy Chester schnappte nach Luft.
Das Bild, das von Sekunde zu Sekunde immer klarer und schärfer wurde, zeigte ein Gesicht, das er nun schon kannte. Carringtons Gesicht.
„Nun, zufrieden?“ fragte Mr. Conally.
Leroy nickte wie betäubt. „Ich nehme den Apparat“, sagte er. „Schicken Sie ihn mir bitte mitsamt Rechnung ins Hotel. Ich wohne im ‚OLE INN’, mein Name ist Carrington…“
Jetzt war es heraus. Er hatte resigniert und die Identität eines Fremden angenommen…
Aber er war und blieb Leroy Chester, das unterlag keinem Zweifel, nur war es im Augenblick weder opportun noch möglich, seine wahre Identität unter Beweis zu stellen.
Er verließ den Laden. Plötzlich drängte es ihn danach, zum Friedhof zu eilen. Er wollte Daphne sehen, seinen Freund Harry, er wollte dabei sein und hören, wie man ihn begrub…
Leroy schlug den Weg ein, den der Trauerzug genommen hatte.
Als er den von hohen, dunklen Zedern umrahmten Friedhof betrat, sah er am anderen Ende die große, schwarze Menschentraube, die sich um ein Grab gebildet hatte.
Um sein Grab…
Er strebte darauf zu und spürte ein beunruhigendes Kribbeln auf seiner Haut. Kein Wunder! Wem passierte es schon, Zeuge des eigenen Begräbnisses zu werden?
Oder irrte er sich? War er nervenkrank, steigerte sich in etwas hinein, was es nicht gab? Sah er Dinge, die nur in seiner Phantasie existierten, und war er tatsächlich dieser Mr. Carrington, als den sein Paß ihn auswies?
Er ging weiter, wie in Trance.
Nein, er war Leroy Chester, er durfte sich darin nicht irre machen lassen, auch wenn eine groteske Wirklichkeitsverdrehung ihm und allen anderen weiszumachen versuchte, daß er tot im Sarg lag, das Opfer eines tragischen Unfalls.
Er blieb stehen, nur wenige Schritte von der Trauergemeinde entfernt. Er sah Daphne, die mit gesenktem Kopf am Grabe stand, zitternd. Neben ihr Harry, der immer noch damit beschäftigt war, seine offenbar völlig gebrochene Begleiterin mit dem Arm zu stützen. Der Pfarrer sprach, den üblichen Nachruf, voll Pathos und Trauer, aber ohne eine echte Beziehung zu dem Leben, das der Verstorbene geführt hatte.
,Ich lebe!’, wollte Chester rufen.
Was würde geschehen, wenn er diese Worte hinausschrie und damit die Trauergemeinde schockierte?
Nein, das wäre sinnlos, töricht und taktlos zugleich. Es konnte allenfalls dazu führen, daß man ihn, den Ortsfremden, wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und offenkundiger Schizophrenie verhaftete, untersuchte und möglicherweise in eine Anstalt sperrte.
Ihm blieb keine Wahl. Er war jetzt Carrington und mußte mit diesem Namen leben, bis er bewiesen hatte, daß Leroy Chester noch lebte.
Er machte kehrt und ging davon. Das Geschehen auf dem Friedhof quälte ihn. Er hatte einfach nicht die Kraft, seinem eigenen Begräbnis zuzuschauen und so zu tun, als ob damit alles seine Ordnung habe.
Chester wurde erst wieder ruhiger, nachdem der Friedhof weit hinter ihm lag. Er wußte noch nicht, wie es weitergehen sollte, aber ihm war klar, daß er mit Daphne sprechen mußte.
Sie mußte begreifen lernen, daß sich hinter seinem neuen Gesicht ihr geliebter Mann verbarg. Sie würde und mußte ihm helfen, den mysteriösen Teufelskreis zu durchbrechen.
Er versuchte sich zu erinnern, wann und wo das Leben des Leroy Chester sein unerklärliches Ende genommen hatte, aber ihm fiel nur ein, das er zuletzt auf der Terrasse gesessen hatte, lesend, mit sich und der Welt zufrieden…
Hin und wieder hatte er Daphne gehört, das Klappern von Porzellan, als sie den Tisch deckte, dann das Brummen eines Wagenmotors…
Er runzelte die Augenbrauen. Richtig! Jetzt wußte er es auf einmal ganz genau. Daphne hatte ihm aus dem Zimmer zugerufen: „Ich glaube, da kommt Harry…“
„Gut“, hatte er geantwortet, ohne seine Lektüre zu unterbrechen. „Lege noch ein Gedeck auf…“
Harry O’Neill besuchte sie recht häufig, mindestens zwei- oder dreimal in der Woche. Er war ein angenehmer Plauderer, witzig und sarkastisch zugleich, dabei hilfsbereit und freundlich, ein intelligenter, dynamischer Unterhalter, den man gern um sich hatte und der viel dazu beitrug, das zuweilen etwas langweilige Leben auf Marhill Place mit den bunten Tupfen echten Amüsements zu verzaubern.
Leroy Chester
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