093 - Der Geist im Totenbrunnen
erwiderte Daphne. „Ich gehöre jetzt Leroy. Ich habe immer nur ihm gehört, Harry. Es gab eine kurze Zeit, da meinte ich, mit dir leben zu können. Das war falsch.“
Wütend packte Harry die junge Frau mit beiden Händen und stemmte sie hoch über seinen Kopf. Dabei hatte er das Gefühl, wie der Zeremonienmeister eines heidnischen Opferaktes zu handeln. Das milchige Mondlicht lag auf der zarten Gestalt, und als folge er einem fremden Befehl, ließ er sie ganz plötzlich in den Brunnen fallen.
Er sah, wie Daphne stürzte, wie sich der Lichtfleck, den sie bildete, im Dunkel des Brunnens auflöste. Harry beugte sich weit über die Einfassung nach vorn, um den Aufschlag zu hören, aber aus dem schwarzen Schlund kehrte kein Laut zu ihm zurück. Es war, als verschließe sich der Brunnen vor ihm, als verwehre er ihm Einblick und Gewißheit.
O’Neill richtete sich auf. Er zitterte am ganzen Körper. Mühsam schleppte er sich zu seinem Wagen zurück. Er stieg ein und fuhr los, wie in Trance.
Er schluchzte und begriff, daß er mit Daphne auch sich selbst getötet hatte. Vor ihm tauchte eine scharfe Kurve auf. Die gierig in das Dunkel greifenden Scheinwerfer trafen plötzlich ein junges Paar, Daphne und Leroy.
Sie trugen Hochzeitskleidung und winkten ihm zu.
Er trat das Gaspedal voll durch und raste direkt auf die Spukgestalten zu. Er wollte sie zerschmettern, überfahren, aber als er meinte, sie schon erfaßt zu haben, sah er nur noch eine riesige alte Eiche vor sich, einen breiten, gewaltigen Stamm von felshaftem Zuschnitt.
Harry wollte bremsen und das Lenkrad herumreißen, aber seine Reaktion kam zu spät. Der Wagen prallte mit voller Wucht gegen den Stamm.
Harry spürte keinen Schmerz. Er sank in sich zusammen und registrierte beinahe erleichtert, daß es aus war. Er begriff, daß die Bewohner des Totenbrunnens ihn eingeholt hatten, aber er fühlte auch, daß er keine Chance hatte, jemals einer der ihren zu werden.
ENDE
Weitere Kostenlose Bücher