0934 - Der Schlüssel zur Quelle
und obwohl sich Omar Littles Zuckungen merklich legten, rauschte sein Mund nach wie vor wie ein Wasserfall. Zusammenhanglose Begriffe purzelten heraus.
»Das hat nichts zu bedeuten.« Rooney lachte. »Mister Little ist mit einer regen Fantasie gesegnet, die ihm in diesen Momenten gerne überzulaufen droht. Dann fabuliert er wild vor sich hin. Die anderen Gefangenen scheinen seine Geschichten zu mögen - zumindest den Teil, der nicht genuschelt und somit überhaupt zu verstehen ist. Ich persönlich habe mir nie die Mühe gemacht, zuzuhören. Wozu? Gebrabbel eines Kranken, richtig?«
»Richtig«, wiederholte Jenny leise, eher aus Reflex denn aus Überzeugung. Sie mochte Rooney nicht, konnte diese ganze Anlage nur schwer ertragen - und irgendetwas an diesem Little faszinierte sie, wenngleich sie es sich nicht erklären konnte. Wieder wanderte ihr Blick zu dem Narbengesicht, während Mike die besprochenen Totalen aufnahm. Little wurde von den Pflegern umsorgt und beruhigt, kam mehr und mehr wieder zu sich. Routine, wie es schien.
Und doch… irrte Jenny sich, oder warfen die anderen Gefangenen dem Schmächtigen immer wieder kurze Blicke zu? Fast so, als wollten sie sicher gehen, dass er wieder auf die Beine kam.
Nein , dachte Jenny plötzlich. Nicht das. Das ist keine Angst um Omar in ihren Gesichtern. Sondern Angst vor ihm!
Unsinn. Sie sah Gespenster, das stand außer Frage. Was für eine Bedrohung sollte ein inhaftierter Epileptiker schon darstellen? Das Innere einer texanischen Strafanstalt war vermutlich einer der sichersten Orte der Welt. Jenny atmete tief durch, rief sich mental zur Ordnung und konzentrierte sich wieder auf den Job. Nur deswegen war sie schließlich nach Huntsville gekommen. Ihre Zuschauer warteten auf die neue Episode von Think America - und die Networks ebenso.
Nach einigen Minuten hatte Mike alles, was er brauchte, im Kasten und nickte Jenny und dem Direktor auffordernd zu. »Von mir aus kann's weitergehen.«
»Wunderbar, wunderbar«, sagte Rooney betont übereifrig. »Dann würde ich vorschlagen, wir machen zunächst in den Zellentrakten weiter.« Prompt wandte er sich nach links und führte sie zu einer dunklen Tür mit eingelassenem Guckfenster aus Panzerglas, die zu einem weiteren Korridor führte. Langsam bekam Jenny das Gefühl, als bestünde das gesamte Gebäude zu neunzig Prozent aus Korridoren.
Rooney ging voran, um ihnen den Weg zu weisen, und so kam es, dass Jenny die letzte Person ihrer kleinen Gruppe war, die den Besuchsraum verließ. Von seinem Platz an dem rechteckigen Tisch am Fenster aus murmelte Little noch immer irgendwelche Nuscheleien vor sich hin, doch ließen sich diese kaum mehr als sinnhafte Worte bezeichnen. Jenny hatte den rechten Fuß schon über der Türschwelle, als der Gefangene etwas sagte, das sie innehalten ließ.
Hatte sie sich verhört? Spielte ihr ihre überreizte Fantasie einen Streich? Es war heiß in Texas und das Volk nicht gerade nett zu ihr gewesen, von daher…
Da! Schon wieder!
Jenny regte sich nicht, wagte es kaum zu atmen - teils aus Angst, Omars Gemurmel zu verpassen. Teils aus Sorge, er könne weiterreden und ihren Verdacht bestätigen.
Unmöglich. Das war schlichtweg unmöglich.
Irgendjemand hatte doch mal gesagt, wenn man genügend Schimpansen an Schreibmaschinen setzte und sie wild drauflos tippen ließe, käme irgendwann ein Werk von Shakespeare dabei heraus, richtig? Man müsse nur lange genug warten. Nicht, weil die Schimpansen Ahnung von Weltliteratur hätten, sondern weil irgendwann alles, was theoretisch möglich sei, auch praktisch eintrete. Nun, wenn das stimmte, erklärte es Omar Littles letzte Bemerkung. Sie war ein Zufallstreffer, nichts weiter. Einer der Schimpansen hatte mal ins Schwarze getroffen.
Aber wenn es so einfach ist, Mädchen , schalt sie ihre innere Stimme einen Narren, warum zitterst du dann? Warum fühlst du dich, als habe dir jemand plötzlich den Boden unter den Füßen weggezogen?
Jenny hasste diese Stimme. Es war die ihres Überlebensinstinktes. Seit Dellinger's Point trug sie sie mit sich herum.
»Kommst du?«, drang Mikes Frage an ihre Ohren. »Jenny? Alles Okay?«
Sie nickte, aber das war eine Lüge. Nichts war okay. Zumindest noch nicht. Denn wenn sie sich wirklich nicht verhört hatte, (Hast du nicht, Mädchen, natürlich nicht. Hör endlich auf, dir in die Tasche zu flunkern, nur weil du die Augen lieber vor der Wahrheit verschließen würdest.)
(Wahrheit? Leute wie Sie können mit der
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