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0938 - Rabenherz

0938 - Rabenherz

Titel: 0938 - Rabenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Fröhlich
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schlüpfen. Inzwischen erinnerte sie sich nicht einmal mehr an sein Gesicht.
    Sie trat wieder ans Fenster und sog jede Einzelheit des Stadtbildes in sich auf. Seit das World Trade Center nicht mehr stand, hatte der Ausblick zwar etwas an Erhabenheit verloren, aber er raubte einem dennoch den Atem. Vor allem das Schloss zu ihrer Linken fügte sich harmonisch ein. An einem Berg gelegen, an dessen Fuß sich die Loire durch New York schlängelte.
    Dunja taumelte zurück, stieß gegen den Tisch und konnte gerade noch das Weinglas festhalten, bevor es umstürzte.
    Was hatte sie da gesehen? Ein Schloss mitten im Big Apple? Die Loire?
    Ein Blick durchs Fenster zeigte ihr das Panorama, das sie seit Jahren kannte. Natürlich! Das Schloss…
    (hieß Château Montagne)
    ... war reine Einbildung gewesen.
    Oder?
    Schweiß setzte sich auf ihre Stirn. Mit pochendem Herzen ließ sie sich auf das Sofa sinken. Ein weiterer Schluck Wein beruhigte ihre Nerven.
    Sie hatte sich das Schloss nicht eingebildet. Es war eine ihrer Visionen gewesen. Der Zukunftsblick .
    Neben der hypnotischen Ader ihre zweite Fähigkeit. Wenn man es so nennen mochte, denn oft genug empfand sie den Zukunftsblick als Belastung. Weder vermochte sie ihn zu steuern, noch ihn willentlich herbeizurufen. Wenn er kam, präsentierte er ihr mehr oder weniger deutliche Eindrücke. Dabei konnte es sich um Bilder handeln, aber auch um Geräusche, Gerüche oder einfach nur bloßes Wissen.
    So, wie sie nun plötzlich wusste, dass das Schloss Château Montagne hieß.
    Aber was sollte sie damit anfangen? Was hatte es zu bedeuten?
    Die Visionen zeigten ihr grundsätzlich eine mögliche, eine wahrscheinliche Zukunft. Oder besser: eine Zukunft, wie sie eintrat, wenn sie nichts dagegen unternahm.
    Vor neun Jahren hatte sie an der U-Bahn-Station neben einem Mann auf den Zug gewartet. Obwohl er regungslos dastand, hatte sie ihn plötzlich schreien gehört. Er stank penetrant nach verbranntem Fleisch. Ansatzlos wusste sie, dass er in den Trümmern eines einstürzenden Hauses sterben würde, wenn er in den nächsten Zug stiege.
    Also gab sie ihm zu seiner grenzenlosen Überraschung einen innigen Kuss auf den Mund - was ihr nicht leicht fiel, denn er schmeckte nach Asche und Benzin. Sie lud ihn auf einen Kaffee zu Starbucks ein und ließ ihn so lange nicht gehen, bis er endlich nicht mehr nach verbranntem Fleisch roch. Als sie stattdessen den Duft nach Cool Water wahrnahm und auch seine permanenten Schreie verstummten, stand sie unvermittelt auf und ließ ihn sitzen. Fünf Minuten danach raste das erste Flugzeug ins World Trade Center.
    Später hatte sie ihn im Fernsehen gesehen. Er hatte ein Interview gegeben. »Ich weiß nicht, wie mich diese Frau so weit brachte, nicht zur Arbeit zu gehen. Ich weiß nur, dass ich tot wäre, wenn sie es nicht getan hätte.«
    Damals war die Vision aber wenigstens so leicht zu interpretieren gewesen, dass sie etwas damit anzufangen wusste. Aber was sollte ein Schloss mitten in New York bedeuten?
    (Die Hülle. Achte auf die Hülle!)
    Sie griff sich an die Schläfen. Eine Steinlawine rumpelte durch ihren Kopf, ließ ihn beinahe zerbersten. Sie brauchte eine Tablette. Dringend! Obwohl sie Rotwein getrunken hatte!
    Womöglich handelte es sich doch nicht um den Zukunftsblick . Denn zu allem Überfluss suchten sie seit ungefähr anderthalb Jahren immer wieder Erinnerungsblitze heim. Schlaglichtartige Bilder, die ihr Szenen aus ihrer lange vergessenen Vergangenheit zeigten.
    Über Jahrtausende hinweg hatte sie nicht gewusst, warum sie nicht alterte. Sie hatte sich für eine Laune der Natur gehalten. Das Mittelalter zählte für sie zur jüngeren Historie. Sie hatte die Römer und die Ägypter erlebt. Ihr war selbst eine Zeit vertraut, in der Lemuria noch existierte.
    Doch plötzlich, nach all diesen Generationen, die sie überlebt hatte, stiegen Erinnerungen in ihr auf. Vor anderthalb Jahren hatte es begonnen. Undeutlich zunächst. Eine blühende Blumenwiese, weißes Haar, der Geruch nach saftigem Gras. Eindrücke, die für sich genommen keinen Sinn ergaben.
    Im Laufe der Monate gewannen die Bilder an Klarheit. Dennoch war sie noch immer weit davon entfernt, alle Hintergründe zu kennen.
    Natürlich lautete ihr wirklicher Name auch nicht Dunja. Und Bigelow schon gar nicht. Den Nachnamen hatte sie sich ausgedacht und würde ihn ablegen, wenn sie nach Maine zog. Der Vorname hingegen orientierte sich an der Wahrheit. Zu einer Zeit, als sie Schamanin in Lemuria

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