0953 - Der Fluch von Eden
Kinder…«, setzte Dorothea Großkreutz an.
»Ich werde versuchen, sie zu schützen«, sagte Wenzel. »Aber ich verspreche nichts. Wenn Ihr gesehen hättet, was ich…«
Er brach ab, als hätte er sich dabei ertappt, etwas zu sagen, was nicht für ihre Ohren bestimmt war.
Nele fragte sich, was er damit meinte - diesen Raum hier? Sie sahen ihn doch. Jetzt gerade, in diesem Moment…
Sie taumelte vor, und nun war sie es, die ihre Arme um den schmalen Körper der Mutter legte. Dabei hatte sie das Gefühl, fast nur Stoff und ein Gerippe zu berühren. Nie zuvor war ihr so bewusst geworden, wie mager und dünn ihre Mutter war. Als bekäme sie kaum zu essen oder leide an einer verzehrenden Krankheit.
»Kommt jetzt«, verlangte Wenzel. »Ich begleite euch nach oben. Das Kindermädchen und die beiden Buben sitzen bestimmt schon auf dem Karren.«
›Welchem Karren?‹, wollte Nele fragen. Doch sie verkniff es sich, und wenig später sah sie dann, wovon Wenzel gesprochen hatte - einem Käfig auf Rädern, gezogen von einem Ochsen, in dessen tückisch glitzernden Augen sich das Licht der Laternen spiegelte, die zu allen Seiten an den Gitterstäben befestigt waren.
Agnes, Julius und Noah kauerten bereits auf dem Stroh, mit dem der Käfigboden bestreut war.
Spätestens in dem Moment, da Nele ihre Mutter in den schrecklichen Karren klettern sah, wurde ihr klar, dass ihr bisheriges nobles und entbehrungsarmes Leben an einem Wendepunkt - dem zweiten nach ihres Vaters Tod - angelangt war.
Irgendetwas war heute passiert. Nach dieser Nacht würde nichts mehr so sein wie früher.
Ein Impuls ließ sie handeln. Der Käfig kam ihr plötzlich wie der Inbegriff dessen vor, was sie künftig erwartete. Aber so wollte sie nicht enden. Um keinen Preis. Sie war entsetzt über ihr eigenes Tun, konnte es aber nicht stoppen. Statt wie die anderen Familienmitglieder zuvor in den rollenden Käfig zu klettern, drehte sie sich brüsk um und stieß Wenzel so heftig um, dass er hinfiel. Ohne abzuwarten, was die anderen Schergen des Erzbischofs taten, wandte sie sich nach links, wo die Dunkelheit am schwärzesten schien und wo sie sich doch traumwandlerisch zurechtfand, weil sie hier tagein, tagaus gespielt und sich bewegt hatte.
Im Davonrennen sah sie über ihre Schulter. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sich Schaulustige beim Haus ihrer Eltern eingefunden hatten. Sie scharten sich um den Karren - aber nicht dort, wohin Nele hetzte.
Wenzel rappelte sich wieder auf und machte sich gemeinsam mit mehreren seiner Leute und ein paar Gaffern an ihre Verfolgung. Da tauchte Nele schon in das Gestrüpp eines unbebauten Grundstücks ein, auf dem sie sich trotz bleierner Dunkelheit auskannte wie in ihrer Westentasche.
Sie rannte, verharrte, lauschte, rannte weiter. Ihr kam es wie Stunden vor, aber es konnten allenfalls ein paar Minuten sein, bis sie den Bachlauf erreichte, auf dessen anderer Seite freies Gelände lag, dahinter ein Wäldchen, in dem es tausend Verstecke gab - aber auch wildes Getier, vor dem sich Nele fürchtete.
Letztlich jedoch machte ihr in dieser Nacht nichts mehr Angst als die Menschen, die sie einzufangen versuchten. Und so hetzte sie weiter, immer weiter weg von dem Haus, in dem sie aufgewachsen war…
***
Das schlechte Gewissen plagte sie, kaum dass sie die Verfolger abgeschüttelt hatte. Nele verkroch sich in einer kleinen Aushöhlung unter einer gewaltigen Eiche, zwischen Luftwurzeln, Spinnen und Käfern.
Die Nacht schien kein Ende nehmen zu wollen. Immer wieder knackte es im Unterholz. Doch die befürchteten Häscher blieben verschwunden, offenbar hatte man die Suche nach ihr aufgegeben. Sie hatte gewiss keinen großen Wert für die Obrigkeit - ein dürres rothaariges Mädchen mit Sommersprossen und Augen, die Löcher in Seelen brennen konnten. Das zumindest hatte ihr Herr Vater öfter von ihr gesagt, wenn sie allein gewesen waren. Meist, wenn er ihr…
Sie verdrängte die Erinnerung. Ihr schlechtes Gewissen - ja, das lenkte sie ab. Besser, sie konzentrierte sich darauf, nicht auf die Laute ringsum, die ihr immer wieder eine Gänsehaut bescherten. Sie verzieh es sich nicht, ihre beiden Brüder im Stich gelassen zu haben. Sie hielten so große Stücke auf sie - aber nun würden sie enttäuscht sein, dass sie davongerannt war, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, sie vor einem ungewissen Schicksal zu bewahren.
An ihre Mutter dachte sie auch; sie hatte sich ihr immer verbunden gefühlt. Doch seit dem Tod ihres Mannes,
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