0953 - Der Fluch von Eden
Inhalt aus, ohne auch nur einmal abzusetzen. Danach wischte sie sich den Mund mit dem Handrücken ab.
Wenzel führte sie in eine Ecke und zeigte auf ein Bündel. »Kleidung«, sagte er. »Ich denke, sie passt.«
»Wem gehört sie?«
»Sie gehörte meiner kleinen Schwester.«
»Als sie noch klein war.«
»Als sie noch am Leben war.« Er senkte den Blick. »Sie starb vergangenes Jahr an der Ruhr, die grassierte.«
Nele blickte Wenzel erschüttert an. War das der Grund, weshalb er ihr half? Erinnerte sie ihn an seine verstorbene Schwester?
»Wie alt war sie?«
»Etwa so alt wie du.«
»Und Eure Eltern?«
»Sind schon lange tot. Die Leute sterben oft früh, da verrate ich dir kein Geheimnis. Wie alt war dein Vater?«
»Sechzig.«
»Sechzig? Wirklich? Dann hat er dich spät gezeugt. Und deine Brüder noch später. Dafür ist deine Mutter umso jünger.«
Er sagte es ohne hörbaren Vorwurf.
Nele nickte. Sie wusste nicht, was sie noch erwidern sollte. Doch dann fragte sie: »Wie war ihr Name?«
»Der meiner Schwester?«
»Ja.«
Fast erwartete sie, dass er »Nele«, sagen würde - was ihr die Haare hätte zu Berge stehen lassen. Aber er sagte: »Elsbetha.«
»Elsbetha. Ein schöner Name.«
»Ich nannte sie nur ›Betha‹.«
»Gefiel ihr das?«
Er nickte.
»Ihr verstandet euch gut.«
Erneutes Nicken, das aber bereits unwirscher ausfiel. Er mochte das Thema nicht vertiefen, das wurde klar. »Was ist?« Er zeigte auf das Bündel. »Ist es dir nicht gut genug? Dann lauf weiter im Nachtgewand herum!«
Sie verstand seinen Ärger nicht völlig. Aber statt zurückzukeifen, schluckte sie die Kröte, bückte sich und hob Kleid und Schuhe auf. »Danke«, sagte sie leise.
Er kehrte ihr den Rücken zu, während sie sich umzog. Ganz wohl war ihr noch immer nicht in seiner Anwesenheit. Aber sie fürchtete sich auch nicht vor ihm. Hätte er ihr Schlechtes gewollt, hätte sich die Gelegenheit dazu längst ergeben.
Als er sich wieder umdrehte, wucherte ungläubiger Schrecken über seine Züge. Doch ebenso schnell, wie er aus der Fassung geraten war, fing er sich auch wieder.
Sehe ich seiner Elsbetha so ähnlich?
»Es steht dir gut.«
Sie sagte nichts. Eine Weile starrten sie einander nur an. Dann fragte Wenzel: »Was weißt du von deines Vaters Verbrechen? Sprich ehrlich zu mir. Ich riskiere meinen Hals, indem ich mich auf deine Seite stelle.«
»Ich habe nicht darum gebeten«, versetzte sie gereizt. Seine Frage nach »Ihres Vaters Verbrechen« ließ sie wie in einem antrainierten Reflex in Opposition gehen.
»Du kannst jederzeit gehen.« Er wies zur Tür.
Nele begriff, dass er mindestens so starrsinnig sein konnte wie sie. Plötzlich lag ein schwaches Lächeln auf ihren Lippen.
»Was ist?«, fragte er.
Sie trat einen Schritt vor. »Ich entschuldige mich.«
Er schien von ihrem Stimmungswandel noch mehr verunsichert zu sein.
»Und möchte danke sagen.«
Eine ganze Weile blickte er sie noch grimmig an. Dann lösten sich seine Züge. Er klatschte in die Hände. »Das klingt schon besser! Aber ich verlange trotzdem von dir die volle Wahrheit. Ich brauche dein Vertrauen, wenn ich dir helfen soll.«
»Was hast du mit mir vor?«
»Ich helfe dir, die Stadt zu verlassen. Hier bist du nicht mehr sicher - als Tochter eines Ketzers, der sich in solcher Weise gegen den Herrn versündigt hat. Ich habe gute Freunde in Speyer. Dorthin bringe ich dich. Sie sind wohlhabend - ganz wie du es gewohnt bist. Aber du wirst für deinen Lebensunterhalt arbeiten müssen. Es sei denn, dich freit ein Sohn aus reichem Hause.«
Sie überlegte, was für ein Bild er von ihr haben musste, wenn er ihr eine solche Zukunft anbot.
Trotzig fragte sie: »Womit genau hat sich mein Herr Vater versündigt? Ich sah natürlich die Dinge, die er in seinem geheimen Raum hortete. Aber…«
»Wenn es nur das wäre!«, unterbrach er sie. »Noch einmal: Du bist wirklich völlig unwissend? Du und deine Mutter? Deine Geschwister? Er hat das alles vor euch verborgen gehalten? Es muss über Jahre gegangen sein!«
» Was? Was wirft die Kirche, was wirft der Erzbischof ihm vor?«
»Mit Worten ist das schwer zu beschreiben.«
Sie ballte zornig die Hände zu Fäusten. Aber bevor sie ihrem Ärger Luft machen konnte, sagte Wenzel: »Ich will versuchen, es dir zu zeigen.«
»Zu zeigen?«
Er nickte fahrig, winkte sie zu sich, nahm sie an der Hand und führte sie aus dem Haus.
»Wohin wollt Ihr mit mir?«
»Zu den Ausgeburten deines Vaters.«
Sie zuckte
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