0953 - Der Fluch von Eden
Nein, es geht ihnen nicht gut. Und wahrscheinlich wird es ihnen bald noch viel schlechter ergehen. Mein Herr, Dietrich I. ...«
»Was hat er ihnen angetan?« Nele hielt es nicht länger auf ihrem Lager. Über den erst seit drei Jahren im Amt befindlichen Erzbischof herrschte im Volk keine gute Meinung. Sie schnellte hoch, war erleichtert, dass sie noch immer ihr Nachtgewand trug, wenigstens das, und trat dicht vor Wenzel, der immer noch am Boden saß, zu ihr aufblickte.
»Sie wurden angehört.«
»Angehört?«
»Verhört - ich gebe es zu.«
»Wegen…?«
»Dem Raum, den wir im Keller fanden. Aber der ist nur der Zipfel des Monströsen.«
Des Monströsen? Was redete Wenzel da?
»Ihr beleidigt meinen Vater!«
Wenzels Gesicht blieb ausdruckslos. »Wie gut kanntest du ihn?«
»Wie gut? Er war mein Vater .«
»Wusstest du von dem Laboratorium im Keller?«
Sie schüttelte vehement den Kopf.
»Und das soll ich dir glauben?«
»Es ist die Wahrheit!«
»Er muss sehr oft da unten zu Werke gegangen sein. Und das ist dir nicht aufgefallen?«
»Mein Vater war mir keine Rechenschaft schuldig. Er war häufig im Keller - Ihr habt sicher die Schnitzbank gesehen. Und die Teile, die er daran fertigte…«
Wenzel nickte. »Und nie hat einer von euch nach ihm gesehen, wenn er unten… schnitzte? Dann muss doch aufgefallen sein, dass er gar nicht da war - weil er sich in seinem Geheimlaboratorium aufhielt.«
»Er wollte nicht gestört werden.«
»Das mag sein. Aber meine Frage lautet: Habt ihr euch immer daran gehalten ?«
Sie nickte. »Ja. Natürlich.«
Es war die Wahrheit. Zumindest, was Nele anging. Von den anderen Familienmitgliedern konnte sie es nur vermuten, da es nie zur Sprache gekommen war, ob Albrecht Großkreutz zeitweilig vielleicht in sein geheimes Refugium abgetaucht war.
»Herr Wenzel?« Nele nahm all ihren Mut zusammen.
»Ja?«
»Weiß man, was mein Vater in dem Laboratorium getrieben hat? Ich meine, welchem Zweck es diente?«
Erst jetzt erhob sich auch der Mann, der in Diensten der Kirche stand - wenn auch nicht als Priester. Er neigte den Kopf leicht nach unten, um Nele besser in die Augen schauen zu können. Sie wiederum blickte angespannt zu ihm auf.
»Es gibt Hinweise darauf - ja. Letztlich waren sie es, die uns auf seine Spur brachten. Davor galt er als gottesfürchtiger, ehrenhafter und verdienter Bürger dieser Stadt. Doch ich fürchte, damit ist es für immer vorbei.« Er seufzte, dann fügte er schwer hinzu: »Wie konnte er euch das nur antun?«
Sie kniff die Lippen zusammen. Dieselbe Frage hatte sie sich auch schon gestellt. Aber statt darauf einzugehen, fragte sie: »Wo bin ich hier?«
»Bei mir zu Hause.«
»Bei Euch?«
»Es schien mir das Sicherste. Ich wohne ziemlich nah des Wäldchens, in dem du dich versteckt hattest. Nachdem die Suche nach dir offiziell eingestellt wurde, legte ich mich dort auf die Lauer. Ich hatte ungefähr mitbekommen, wohin du gerannt warst.«
»Warum?«, fragte sie.
»Was meinst du?«
»Warum bringt Ihr Euch wegen mir selbst in Gefahr?«
Er errötete leicht. Nele fühlte sich plötzlich wieder unbehaglich - wie vorhin, als sie es für denkbar gehalten hatte, dass er sie während ihrer Bewusstlosigkeit…
»Du tatest mir leid. Einfach nur leid.« Sie wusste nicht, ob sie ihm das glauben konnte. »Und jetzt?«, fragte sie. »Wann kommt meine Familie frei, wann kann ich wieder nach Hause zu ihnen?« Sein Ton wurde kalt wie tausendjähriges Eis. »Nie mehr«, sagte er. »Du wirst nie mehr nach Hause können. Heute wurde deines Vaters Grab geöffnet - und der Bann über euch verhängt.«
***
Die Worte »nie mehr« und »Bann« ließen Nele ebenso erstarren wie der Hinweis auf die Graböffnung.
»Meines Vaters…«, begann sie mit kraftloser Stimme. Mehr brachte sie nicht heraus.
»Er gilt der Ketzerei als überführt«, sagte Wenzel. »Und Ketzern wird kein Platz in geweihter Erde zugestanden. Sie gruben ihn im ersten Morgengrauen aus.«
»Was haben sie mit ihm gemacht?«
»Verbrannt. Auf einem Scheiterhaufen. Ich wünschte, ich müsste es dir nicht sagen.«
Nele erinnerte sich an den Brandgeruch, der ihr nach ihrem Erwachen in die Nase gestiegen war. Sekunden später konnte sie nicht mehr an sich halten und erbrach sich auf den Boden von Wenzels Heim.
Er wartete geduldig, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Dann reichte er ihr einen Holzbecher, der bis zum Rand mit Wasser gefüllt war. »Trink das.«
Sie nahm es dankbar entgegen und trank den
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