0956 - Die Todeszone
Vásquez blickte sich verstohlen um, doch niemand hatte von ihrer Ankunft Notiz genommen.
Wie durch ein Wunder war ihr die Flucht auf dem Motorrad gelungen. Sie war immer weiter gefahren und hatte erst gestoppt, als sie mit dem letzten Tropfen Benzin ein Dorf am Rande des Dschungels erreicht hatte. In ihre Unterkunft in einem Dorf nahe der Militärbasis hatte sie sich nicht zurückgetraut, und damit war auch ihr Auto außer Reichweite. Also hatte sie ihr letztes Bargeld für neue Kleidung und eine Busfahrkarte ausgegeben.
Jetzt, mitten im Trubel der ihr so wohl vertrauten Hauptstadt kamen ihr die schrecklichen Ereignisse im Dschungel seltsam unwirklich vor. Wer sollte sie daran hindern, nach Hause zu fahren, sich etwas zurechtzumachen und wie jeden Morgen zur Arbeit zu gehen, als wäre nichts geschehen? Doch Paula wusste genau, dass das nicht ging. Ihr früheres Leben war genau in dem Moment zu Ende gewesen, als die Kugel Fernandos Schädel zerfetzt hatte.
Aber sie musste Gewissheit haben. Sie hatte noch ein paar lose Münzen in ihrer Hosentasche. Sie ging zum nächsten öffentlichen Telefon, warf etwas Geld ein und wählte die Durchwahl ihres Chefs. Ihr Herz schlug bis zum Hals, als das Freizeichen ertönte. Beim dritten Mal hob jemand ab.
»Ortega.«
»Luis, ich bin's.«
»Paula…!«
Mehr brauchte es nicht, um Paula Vásquez davon zu überzeugen, dass sich ihre Gebete nicht erfüllen würden. Luis Ortega war ein stolzer Mann, der nicht gerade mit einem zu kleinen Ego bestraft war. Wenn seine Stimme so zitterte wie jetzt, dann mussten sie bereits bei ihm gewesen sein. Luis wusste Bescheid. Und er hatte Angst.
»Wo bist du, Paula?«
»Ich bin noch in Amazonien«, log sie. Die Reporterin wusste nicht, ob das Münztelefon ihrem Chefredakteur verraten würde, dass sie sich längst in Bogotá befand, aber darauf musste sie es ankommen lassen.
»Ah, und wann kommst du zurück?«
»Vermutlich in ein paar Tagen. Ich muss noch ein paar Dinge klären.«
»Ah ja, gut. Was hast du herausgefunden?«
»Ich weiß es nicht, Luis«, sagte Paula - und das war die Wahrheit. Auf was in aller Welt war sie da nur gestoßen? Vermutlich würde sie es nie herausfinden. Sie hatte gesehen, was diese Leute mit allzu neugierigen Reportern machten.
»Fernando ist tot, Luis.«
»Ja, äh… ich meine, das ist ja schrecklich. Wie ist das passiert?«
Die Reporterin hätte fast aufgelacht, so offenkundig war Luis' Versuch, den Ahnungslosen zu markieren. Möglicherweise waren sie gerade in diesem Moment in seinem Büro und hörten alles mit. Paula wusste nicht, ob ihr Chef sie durch diese offensichtliche Verstellung heimlich zu warnen versuchte oder ob er einfach nur ein mieser Schauspieler war. Und eigentlich war es auch egal. Von ihm konnte sie jedenfalls keine Hilfe erwarten.
»Paula, du solltest zurückkommen. Lass die Hände von dieser Geschichte, bevor es zu spät ist.«
»Ich wünschte, ich könnte, Luis.«
Grußlos legte Paula auf. Sie wusste nicht, ob sie weinen oder vor Wut laut schreien sollte. Ihr Leben lag in Scherben. Was sollte sie jetzt tun, wo sollte sie hin?
Und plötzlich wusste sie, an wen sie sich wenden konnte. Paulas Hände zitterten leicht, als sie ein paar weitere Münzen einwarf und eine neue Nummer wählte. Bitte sei da! Der Ruf ging raus, doch niemand reagierte darauf. Sie wollte frustriert wieder auflegen, als sich eine misstrauische Männerstimme meldete.
»Sí?«
***
»Ich glaube wirklich nicht, dass das nötig ist«, sagte Mostache. »Was sollen wir bei euch im Château? Wer bringt dann meine Kneipe wieder in Ordnung?«
Der robuste Wirt war immer noch kreidebleich, aber wie durch ein Wunder war er bis auf ein paar Prellungen und Schnitte unverletzt geblieben. Das Gleiche galt für Malteser-Joe, der sich heftig dagegen verwahrte, »betüdelt« zu werden, und es gerade mal unwillig duldete, dass seine oberflächlichen Verletzungen mit Jod und Verbandszeug verarztet wurden. »Wenn wir uns damals in Algerien so angestellt hätten, hätten wir den Krieg nie gewonnen«, giftete der alte Mann.
»Das habt ihr auch so nicht. Und das ist auch ganz gut so«, erwiderte Nicole gleichmütig, während sie die letzte Binde mit etwas Klebeband befestigte. »Schließlich hat Frankreich damals auch nicht vor Folter und Mord zurückgeschreckt, um mit aller Macht ein Land zu behalten, das uns einfach nicht gehörte.«
»Bist du jetzt plötzlich unter die Kommunisten gegangen?«, fauchte der ehemalige
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