0956 - Die Todeszone
Mostache gegen eine Fensterscheibe prallte und durch das Glas krachte. Von außen drangen aufgeregte Rufe herein. Offenbar hatte sich das ganze Dorf vor der Kneipe versammelt.
Bleibt bloß draußen , dachte Nicole. Es nützte niemandem etwas, wenn sich die anderen auch noch in Gefahr brachten.
Mit einem bösen Grinsen ihrer Tentakel-Fratze wandte sich die Gestaltwandlerin Nicole, André und Pater Ralph zu.
»Und jetzt zu euch!«
***
Paula spürte, wie ihr das Blut in die Beine sackte. Sie fing unkontrolliert an zu zittern, während sie dem Yankee hinterherstarrte, der ohne sich noch einmal umzusehen auf das Hauptgebäude zustapfte und durch die Seitentür verschwand.
»Was hat er…?«, stammelte Fernando. »Hat er gerade…?«
»Mitkommen!«, bellte einer der Soldaten. Jemand stieß Paula von hinten kräftig gegen die Schulter. Sie machte automatisch ein paar Schritte vorwärts, stolperte fast über ihre eigenen Füße und fing sich im letzten Moment. Willenlos ließ sie sich zu einem Nebengebäude führen, dessen Seitenwand offenbar als improvisierte Hinrichtungsstätte dienen sollte. Fernando trottete neben ihr her, seine Miene war eine Mischung aus Entsetzen und absolutem Unverständnis.
»Das können sie doch nicht tun, Paula. Das können sie doch einfach nicht tun.«
»Doch, sie können. Und sie werden es tun. Tut mir leid, dass ich dich da reingezogen habe.«
Paula hörte ihre eigene Stimme wie durch Watte. Seltsam unbeteiligt beobachtete sie, was gerade mit ihr geschah, während sie ihrem Ende entgegenschritt. Das muss der Schock sein , dachte sie. Sei dankbar, so ist es leichter. Es ist bald vorbei.
Aber war sie wirklich bereit, sich so einfach in ihr Schicksal zu fügen? Nein , schrie etwas in ihr. Sie war noch nicht so weit. Sie wollte nicht sterben. Nicht jetzt und nicht auf diese Weise.
Plötzlich aufwallende Verzweiflung trieb ihr Tränen in die Augen. Doch Paula Vásquez war eine stolze Frau, sie wollte ihren Mördern nicht auch noch die Genugtuung geben, sie über ihren Tod weinen zu sehen. Entschlossen wischte sie die Tränen weg - und dann sah sie es.
Nur wenige Meter von ihnen entfernt öffnete sich das Haupttor, um ein Motorrad auf die holprige, ungepflasterte Straße zu lassen, die die improvisierte Militärbasis mit dem Rest der Welt verband. Der Fahrer trug eine dicke Tasche bei sich, die mit einem Schultergurt befestigt war. Offenbar brauchte man auch in der Zeit von Handys und E-Mail noch motorisierte Boten. Der Fahrer scherzte mit den Wachen vorm Tor, die noch nicht bemerkt hatten, welches Drama sich wenige Meter von ihnen entfernt abspielte.
»Fernando!«, zischte sie. Ihr Partner blickte auf und starrte sie mit leeren Augen an.
»Lauf!«, schrie sie und rannte los. Sie wusste nicht, ob Fernando ihr folgte. Sie wagte nicht, sich umzusehen und wertvolle Sekunden zu verlieren, aber dann hörte sie seine Schritte und die aufgeregten Schreie der Soldaten, die sofort die Verfolgung aufnahmen. Das Tor war noch knapp 100 Meter von ihr entfernt, und sie wusste, dass sie es unmöglich schaffen konnte.
Aber sie würde es zumindest versuchen.
Adrenalin peitschte durch Paulas Körper und trieb sie vorwärts, während die Soldaten ihr hinterher schrien und sie zum Aufgeben aufforderten. Aber warum schossen sie nicht? Hastig sah sie sich um, und plötzlich kannte sie die Antwort. Der Motorradfahrer und die Wachen befanden sich genau in der Schusslinie. Die Soldaten konnten nicht feuern, ohne ihre eigenen Leute zu gefährden. Und da Paula und Fernando kaum eine Chance hatten zu entkommen, sahen sie dazu auch keine Veranlassung.
Und genau das war ihr Fehler.
Durch die aufgeregten Schreie waren jetzt auch Männer am Tor auf sie aufmerksam geworden. Mit rauem Gelächter feuerten die Wachen die Soldaten an, die den Flüchtenden hinterherrannten. Offenbar hielten sie das Ganze für einen großen Spaß. Eine willkommene Abwechslung in der Eintönigkeit des Dschungellebens. Doch ihre Verfolger hatten jetzt offenbar genug. »Stopp, oder wir schießen!«, brüllte jemand mit heiserer Stimme.
»Nicht stehen bleiben!«, schrie Paula ihrem Partner zu.
»Glaubst du, ich bin lebensmüde?«
Das Aufbellen eines Sturmgewehrs beendete abrupt Fernandos keuchendes Lachen. Blut und Gehirnmasse spritzten Paula ins Gesicht, und der Fotograf sackte neben ihr zu Boden. Die Reporterin schrie hysterisch auf. Ihre rechte Hand griff instinktiv nach dem fallenden Fotografen. Die Finger gruben sich in den Stoff
Weitere Kostenlose Bücher