096 - Die Gräfin von Ascot
die mich nichts angehen«, erklärte er schnell, um den Fehler wiedergutzumachen. »Sehen Sie, Marie, ich muß doch wissen, wer Ihre Freunde sind und mit wem Sie [hier fehlt eine Zeile im Buch] aus Versehen dem falschen Mann mit dem großen Gummiknüppel, den ich mir für Ihren Schutz angeschafft habe, auf den Kopf. Von morgen ab werde ich ihn wie ein Gewehr über der Schulter tragen, wenn ich mit Ihnen ausgehe.«
Die nächste Viertelstunde saß er neben ihr und schwieg. Sie plauderte über ihre Mitschülerinnen und ihre Lehrerinnen, über Kissenschlachten im Schlafsaal und all die kleinen Ereignisse, die jungen Mädchen wichtig erscheinen.
Nur widerwillig zahlte er schließlich die Rechnung und brachte Marie zum Wagen zurück. Je mehr sie sich der Wohnung in der Penton Street näherten, desto ruhiger und ernster wurde sie. »Kennen Sie Nanny wirklich sehr gut?«
»Sie meinen Mrs. Carawood? Nein, das nicht. Ich traf sie das erstemal an dem Tag, als ich nach Cheltenham kam.« Marie seufzte.
»Ach, sie ist so gut und lieb zu mir gewesen! Wissen Sie, Mr. - John, manchmal kommt mir der Gedanke, daß ich gar nicht so reich bin, wie die Leute immer glauben.« »Wie kommen Sie denn darauf?« Sie schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie unsicher. »Julian hat schon ein paarmal mit mir darüber gesprochen, das heißt, er hat es eigentlich nur angedeutet, daß ich entsetzlich reich sein soll. Aber ich weiß doch von all den Dingen gar nichts. Schließlich drang er darauf, daß ich Nanny fragen sollte, ob sie einen Teil meines Vermögens in Aktien angelegt habe - ich vergaß den besonderen Namen der Papiere...«
»Aber warum glauben Sie denn, daß Sie nicht reich sind?«
»Weil mir Nanny das sicher gesagt hätte«, entgegnete sie ruhig. »Ich habe manchmal das Gefühl, daß ich nicht einen Penny besitze und daß sie mich nur auf diese gute Schule geschickt hat, weil sie mich so gern hat.«
Ihre Stimme zitterte ein wenig, und John schwieg.
»Würde es Sie sehr schmerzen, wenn Sie arm wären?«
Sie schüttelte wieder den Kopf.
»Nur in einer Beziehung: Ich mochte etwas für sie tun. Sie hat so hart gearbeitet, und diese Villa in Ascot ist eine große Verschwendung. Wenn sie sich nicht um mich sorgen und mir ein so glänzendes Leben verschaffen wollte, könnte sie bestimmt ihre Kleiderläden zumachen und brauchte für den Rest ihres Lebens nicht mehr zu arbeiten.« »Haben Sie ihr nicht schon einmal den Rat gegeben?« »Doch einmal«, gab Marie zu. »Aber das hat sie sehr verletzt. Oh, ich glaube, es würde einen großen Unterschied für mich machen, wenn ich nicht so reich wäre.«
»Ja, da haben Sie recht«, sagte er so nachdenklich, daß sie ihn verwundert ansah.
Und sie hatte auch allen Grund dazu, denn John Morlay wurde zum erstenmal in seinem Leben rot.
8
Mrs. Carawood war ein Rätsel, selbst für die Leute, die geschäftlich mit ihr zu tun hatten. Der Laden in der Penton Street war durchaus nicht ihr bestes Geschäft, obwohl sie von dort aus ihre vielen Niederlassungen leitete. Sie hatte eine Filiale in der Nähe des Hanover Square, eine andere in der Upper Regent Street und einige in den großen Vorstädten Londons.
Zuerst hatte sie einen Handel mit gebrauchten Kleidern eröffnet, aber jetzt bestand nur noch in einem Geschäft eine Abteilung mit getragenen Mänteln. Sie hatte hauptsächlich berufstätige junge Mädchen zu Kundinnen, denen sie für billiges Geld die modernsten Modelle verschaffte. Bei ihr kostete die Ware natürlich nur ein Viertel des Preises, den die vornehmen Läden im Westen Londons forderten. Es kam keine Mode auf, die sie nicht auch sofort führte. Sie hatte sich auf diese Kundschaft spezialisiert, und ihr Geschäft warf verhältnismäßig viel ab. Nachdem sie dieses Gebiet einmal entdeckt hatte, blieb sie auch dabei und hütete sich, Experimente zu machen. Die Grossisten kannten sie als eine fleißige, tüchtige Frau; die Geschäftsführer in ihren verschiedenen Filialen wußten, daß sie in kürzester Zeit die Bücher revidieren und daß man ihr nichts vormachen konnte. Aber niemand kannte sie eigentlich genauer. Selbst die Leute, die sich noch darauf besinnen konnten, wie sie ihren ersten Laden aufmachte, und die ihre spätere erfolgreiche Laufbahn verfolgten, wußten nichts von ihrem Privatleben.
Sie wohnte über dem Geschäft in der Penton Street, aber bei ihren Einkünften hätte sie leicht eine größere und luxuriösere Wohnung haben können. Sie stellte nur
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