096 - Die Gräfin von Ascot
durchzusehen. Marie schrieb indessen unten im Erdgeschoß Briefe an ihre Freundinnen im College in Cheltenham. Plötzlich hörte sie, daß die Glocke an der Seitentür klingelte. Sie öffnete die Tür, obwohl Mrs. Carawood ihr besonders ans Herz gelegt hatte, dies nicht zu tun, sondern sie zu rufen.
In dem kleinen Flur brannte das Licht nicht, und nachdem Marie vergeblich am Schalter gedreht hatte, öffnete sie die Tür. Draußen stand ein Mann.
»Sind Sie es, Mrs. Carawood?« fragte er leise. »Heute abend hat er dies hinterlassen und gesagt, daß er morgen eine Antwort wünsche. Ich komme morgen früh um acht wieder.«
»Ich bin nicht Mrs. Carawood«, entgegnete Marie, »aber ich werde ihr die Bestellung ausrichten.«
Einen Augenblick stutzte er, aber dann beruhigte er sich.
»Schon gut. Geben Sie ihr das. Aber bestimmt, Miss, und erzählen Sie ihr auch genau, was ich Ihnen gesagt habe.«
Sie schloß die Tür und nahm den Brief ins Wohnzimmer mit. Die Schrift war sehr schlecht und zeigte, daß der Schreiber wenig Bildung besaß. Das Kuvert war an Mrs. Hoad adressiert, und in einer Ecke stand ›Dringend‹.
Mrs. Hoad? Der Mann mußte sich geirrt haben. Marie ging wieder zur Tür und sah die Straße entlang, aber er war spurlos verschwunden. Vielleicht konnte sie eine Adresse in dem Brief selbst finden? Unentschlossen betrachtete sie das Kuvert von außen. Als sie es aber gerade öffnen wollte, hörte sie Mrs. Carawood hinter sich und drehte sich um. Ihre Blicke begegneten sich.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte Mrs. Carawood scharf.
Sie riß Marie den Brief aus der Hand, warf einen Blick auf die Adresse und steckte dann den Umschlag in ihre Tasche.
»Laß es dir niemals einfallen, Briefe aufzumachen, Marie - nie wieder!« Ihre Stimme klang hart, fast drohend.
Ohne ein weiteres Wort wandte sich Mrs. Carawood um und verließ das Zimmer.
9
Inspektor Peas liebte es, Leute unerwartet zu besuchen. Gesellschaftlich war er nicht sehr auf der Höhe; er hielt nie Verabredungen ein, nicht einmal mit seinen Vorgesetzten, und wenn er zufällig in die Nähe eines Freundes kam, den er versprochen hatte zu besuchen, klingelte er einfach, auch wenn der Zeitpunkt denkbar ungeeignet war. Eines Abends kam er auch zu John Morlay und fand seinen Bekannten damit beschäftigt, den Gothaer Adelskalender durchzusehen. Peas schaute verächtlich auf das kleine Buch, das ein vollkommenes Verzeichnis des ganzen Adels Europas enthält, legte den Hut auf den Boden und nahm Platz.
»Es hat doch keinen Zweck, das Ding zu lesen«, sagte er. »Wenn Sie wissen wollen, welcher Gaul das Rennen in Ascot macht, kann ich Ihnen einen Tip geben, der todsicher ist.«
Peas hatte eine Schwäche: Er schloß gern Rennwetten ab. Allerdings wußte er mit Pferden ziemlich gut Bescheid und verdiente sogar Geld damit, obgleich ihm das als Polizeibeamten eigentlich streng verboten war.
John schlug das Buch zu. Unaufgefordert nahm sich Peas eine Zigarette.
»Den Kerl hätten wir gestern abend beinahe gefaßt.«
»Wen meinen Sie denn?« fragte John und stopfte seine Pfeife.
»Ich meine den Einbrecher, dem die Zeitungen den Spitznamen ›Die einsame Hand‹ gegeben haben.«
»Ach, den! Es gibt aber sicherlich ein ganzes Dutzend solcher Leute, die keine Komplicen haben.«
Der Inspektor schüttelte den Kopf.
»Es gibt nur drei, die den Einbruch verübt haben könnten. Einer von ihnen sitzt im Gefängnis, ein anderer liegt im Krankenhaus - also bleibt nur noch der eine übrig. Wir haben alle anderen Möglichkeiten eliminiert.«
»Großartig ausgedrückt!« erwiderte John ironisch. Peas blies vier Ringe hintereinander in die Luft.
»Es kann auch eine Frau sein. Da hätten die Zeitungen ja wieder etwas zu schreiben.«
»Warum glauben Sie denn, daß es eine Frau ist?« fragte John neugierig. »Der Einbrecher wäre beinahe durch den Wachmann in der Bond Street gefangen worden. Der Wächter hatte sich versteckt und beobachtete ihn, und als er unerwartet zusprang und ihn fassen wollte, schrie der Kerl!«
»Es kommt auch vor, daß Männer schreien.« Peas nickte.
»Das habe ich auch gesagt. Aber der Wachmann schwört, daß der Einbrecher nach Parfüm roch.«
»Auch Männer benützen Parfüm«, entgegnete John, und Peas mußte das wieder zugeben.
»Na, auf jeden Fall ist der Kerl entkommen - an einer Regenröhre ist er hinuntergeklettert. Zuerst glaubten sie, er wäre so rechtzeitig überrascht worden, daß er nichts hätte stehlen können, aber heute
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