096 - Die Gräfin von Ascot
daß er keine Ahnung habe, wie kluge Leute aussähen.
Es fiel Mr. Fenner schwer, seinen Mißmut zu unterdrücken.
»Aber Herman, Sie haben doch schon Illustrierte angesehen. Da müssen Sie doch wissen, wie intelligente Leute aussehen.«
»Ich betrachte mir nur die großen Verbrecher und Mörder, die anderen interessieren mich nicht. Mr. Fenner, wissen Sie, ich könnte tatsächlich einen Mord begehen, ob Sie es glauben oder nicht! Wenn jemand Mrs. Carawood etwas zuleide täte, würde ich ihn glatt umbringen. Und dann würde ich dabeistehen und zusehen, wie er stirbt!« Mr. Fenner lief eine Gänsehaut den Rücken hinunter. »Wenn es darauf ankäme, würden Sie es doch nicht tun. Das dürften Sie ja auch gar nicht«, sagte er, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte. »Ich muß sagen, daß ich Mrs. Carawood auch sehr gern habe, aber.« »Oder wenn jemand der jungen Gräfin etwas täte. Die haben Sie doch auch sehr gern?«
Fenner mußte erst überlegen. Bei dem jungen Mädchen war es doch anders: Für Marie Fioli hatte er nicht soviel übrig.
Die beiden wurden gleich darauf in ihrer Unterhaltung gestört. Die Tür öffnete sich langsam: Ein tadellos gekleideter junger Mann trat in den Laden und nickte der Verkäuferin lächelnd zu. Julian Lester war zu einem Entschluß gekommen.
Das Auftauchen Johns gefährdete seinen Plan. Wenn er sich schon vor einer Woche schnell über den Vermögensstand Maries informieren wollte, so war die Sache jetzt noch eiliger für ihn geworden. Die letzten Bemerkungen des jungen Mädchens hatten ihm gezeigt, daß John Eindruck auf sie gemacht hatte.
Kurz drauf erschien auch Mrs. Carawood im Laden; sie hatte vom Wohnzimmer aus gesehen, daß Julian aus einem Taxi stieg. Mr. Fenner beobachtete die beiden eifersüchtig.
»Wer ist denn eigentlich dieser Fatzke?« fragte er Herman aufgeregt. »Er scheint ja mit Mrs. Carawood sehr vertraut zu sein!«
Julian hatte natürlich keine Ahnung, was der Mann von ihm dachte, und nahm auch nicht die geringste Notiz von ihm. Er ging sofort auf sein Ziel los.
»Nein, Marie ist nicht hier, Mr. Lester. Sie ist mit Mr. Morlay ausgegangen.«
»So?« Er strich nachdenklich den Schnurrbart. »In letzter Zeit bekomme ich sie recht wenig zu sehen.«
»Sie scheinen sich ja sehr für sie zu interessieren«, erwiderte Mrs. Carawood und sah ihn kühl an.
»Selbstverständlich interessiere ich mich für sie. Sie ist doch eine romantische Erscheinung.«
»Ich wüßte nicht.«, begann Mrs. Carawood.
»Aber selbstverständlich ist sie romantisch«, entgegnete Julian überzeugt und lauter, als notwendig gewesen wäre. »Es ist doch zum Beispiel schon romantisch, daß sie als Mitglied einer großen, altitalienischen Adelsfamilie von einer Engländerin erzogen wurde, die sowohl ihre Amme als auch ihre Pflegerin war. Wenn ich recht verstanden habe, ist sie doch seit ihrer frühesten Kindheit in Ihrer Obhut gewesen?« »Ja, das stimmt.«
»Und ihre Mutter hat Sie zu ihrer Pflegerin gemacht?« Sie merkte, daß er aufs Ganze ging, und erschrak. Sie hatte ihn immer freundlich behandelt, in der Voraussetzung, daß er ihr helfen würde, wenn es darauf ankam. Daß er einmal die freundliche Maske fallen lassen könnte, war ihr undenkbar erschienen. Aber Julian war im Augenblick alles gleich.
»Marie hat sich in der letzten Zeit sehr merkwürdig gegen mich verhalten. Ich weiß nicht, ob man mich ins schlechte Licht bei ihr gesetzt hat oder ob etwas geschehen ist, wovon ich nichts weiß. Deshalb bin ich jetzt direkt zu Ihnen gekommen. Sind Sie nun also ihre Pflegerin oder ihr Vormund?«
Sein Ton klang unfreundlich und hart, als ob er ein Staatsanwalt wäre, der einen Angeklagten ausfragt.
»Ihre Mutter hat mich zu Ihrem Vormund gemacht«, erwiderte sie langsam und entschlossen.
»Dann haben Sie doch sicher ein Dokument, ein Schriftstück darüber - und sicher hat die Gräfin auch ein Testament hinterlassen?« Mrs. Carawood antwortete nicht.
»Sicher haben Sie doch mindestens eine Kopie von dem letzten Willen ihrer Mutter?«
»Ich habe keine Kopie«, sagte sie schließlich, als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. »Dokumente und Papiere besitze ich nicht. Sie gab die Tochter in meine Obhut und bat mich, für sie zu sorgen, weil sie keine anderen Verwandten auf der Welt hatte.«
Er bemerkte, daß sie plötzlich über die Schulter schaute. Im nächsten Augenblick eilte sie an ihm vorbei und öffnete die Tür für Marie. Das junge Mädchen lachte herzlich. John Morlay
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